Psychiatr Prax 2006; 33(7): 357-358
DOI: 10.1055/s-2006-954426
Fortbildung und Diskussion
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das schwache Geschlecht

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Publication Date:
13 October 2006 (online)

 

Neuere Ergebnisse der psychiatrischen Migrationsforschung weisen darauf hin, dass kulturelle Besonderheiten, wie Krankheitsverständnis oder traditionelle Denkmuster, die Lebensqualität und die Behandlung von psychisch und körperlich kranken Menschen mit Migrationshintergrund stärker beeinträchtigen als sprachliche Verständigungsprobleme. Zu Recht wird hier mehr kulturelle Kompetenz der Therapeuten gefordert. Deshalb soll auf eine Neuerscheinung im Lambertus-Verlag hingewiesen werden, die in knapper Form aufbauend auf Interviews mit in Deutschland sozialisierten türkischen Männern Hintergründe und Motivationen von Heiratsmigration erläutert.

Ahmet Toprak, promovierter Sozialpädagoge, beschreibt die Hierarchie und Rollenverteilungen traditioneller und bildungsferner Familien seiner Gesprächspartner und entwickelt Thesen zu Erziehungsstilen und familiärer Gewalt. Dabei geht er auch auf tabuisierte Themen wie sexuelles Verhalten ein und erläutert schlüssig das wichtige traditionelle Konzept der Ehre. Er leitet aus seiner Untersuchung Forderungen zu verbesserter gesellschaftlicher Integration ab und gibt dem Leser auch objektive Informationen zu der aktuellen Diskussion um Ehrenmorde. Anhand der vielschichtigen Motive für die Eheschließung mit Partnern aus der Türkei wird die Brüchigkeit der von demonstrativer Stärke und Unnachgiebigkeit charakterisierten männlichen Rolle herausgearbeitet und festgestellt, dass dieses traditionelle Rollenverhalten den Anforderungen der globalisierten westlichen Industriegesellschaft nicht genügt. Flexibilität im Denken, eigenständige Meinungsbildung und Kritikfähigkeit werden durch die traditionellen Erziehungsstile nicht gefördert.

Für psychiatrische Behandler aus der Türkei stammender Patienten werden Themenfelder beschrieben, die im Therapieprozess sinnvoll aufgegriffen werden können und die kulturelle Kompetenz der Therapeuten stärken. Wohltuend sind die gut lesbare Sprache, die klare Gliederung und die kritischen Folgerungen, die in die Debatte um sinnvolle und notwendige Integrationsmaßnahmen eingehen sollten. Für literarisch Interessierte sei außerdem der soeben bei Kiepenheuer und Witsch erschienene Roman "Leyla" des in Deutschland lebenden Autors Feridun Zaimoglu empfohlen, der sich ebenfalls mit der ländlichen Lebensweise und traditionellen Familienstruktur befasst. Wichtig zum Schluss ist noch der Hinweis, dass die in beiden Büchern beschriebenen kulturellen Milieus dörflich geprägt und bildungsfern sind und nur eine Facette türkischer Tradition beschreiben. Im städtischen Kontext existieren diese Muster, wenn überhaupt, nur noch rudimentär. Und einen Ursprung im Islam kann man diesen Traditionen nicht zuschreiben, darauf weist der Autor mit Nachdruck hin. Manches mutet auch uns nicht fremd an: Die Differenzen zwischen den unterschiedlichen islamischen Auslegungen von Sunniten und Aleviten kennen auch wir noch vor wenigen Generationen waren in manchen Regionen Deutschlands "gemischte" Ehen zwischen Katholiken und Protestanten undenkbar.

Eckhardt Koch, Marburg

1. Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosoziale Gesundheit e.V.

Toprak A. Das schwache Geschlecht die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre. Freiburg: Lambertus, 2005: 188 S., Euro 18,-

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