Psychiatr Prax 2006; 33(7): 353-354
DOI: 10.1055/s-2006-954422
Fortbildung und Diskussion
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"Lebensqualität" - aus der Sicht eines Psychiatrieerfahrenen

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Publication Date:
13 October 2006 (online)

 

Gerade komme ich vom Aldi zurück und hab meinen Einkauf wieder mit dem Fahrrad verrichtet, da ich mir kein Auto leisten kann. Rucksack und Gepäckträger waren voll und ich musste das Fahrrad meinen Hausberg hochschieben. Das geschieht immer unter Anteilnahme meiner Nachbarn. Aber solche Momente kenne ich von früher, als ich obdachlos war, da war ich auch eine öffentliche Person. Nur sind die Leute heute wesentlich freundlicher als damals, als ich sie anschnorrte. Heute habe ich Sprudel und Erdbeeren dabei, damals Wodka und Zigaretten und hatte mich verloren. Nach einem offenen Abend in der Kirchengemeinde und mehreren Zeitungsartikeln bin ich bekannt und gefragt. Gefragt oft verschämt von Angehörigen, die sich wundern über meine Selbstständigkeit und fragen welche Medikamente ich nehme. Als ob ich die Selbstständigkeit durch Medikamente erhalten würde.

Unser Landkreis muss sparen, schon alleine wegen der Landesgartenschau. Jetzt hat die Ärztin des Landratsamtes festgestellt, dass meine Blutwerte zu gut sind und mein Kostenzuschuss für eine kostenaufwändige Ernährung gestrichen wird. Also 40 Euro weniger bei der Grundsicherung. Aber wegen meiner Diagnose sollte ich doch ins Betreute Wohnen gehen, welch eine Ersparnis. Das habe ich hinter mir bei diesem Anbieter, ich möchte es nicht wieder erleben, z.B. die gluckenhafte Sozialpädagogin, die es immer so gut meint, aber meine Krankheit und Unselbstständigkeit pflegt. Die ist natürlich für die WfB und da bin ich voller Schrecken und Grausen abgehauen, ohne dankbar zu sein. Dabei habe ich gemerkt, dass ich ohne diese Institutionen weniger Medikamente brauche und mich daher vollkommen neu erfahren kann. Natürlich kann mein Psychiater mein Misstrauen gegenüber den Neuroleptika nicht verstehen, warum auch, er kann fühlen und denken, er hat eine gesunde Sexualität. Wir nicht. Ohne Neuroleptika brauchen wir mehr Gespräche und das zahlt keine Krankenkasse. Uns Chronische sollte es eigentlich nicht geben. Das Paradoxe ist: für Gespräche haben sie kein Geld, aber für WfBs und Heime! Wer ist denn da verrückt; wir oder sie?

Für mich heißt Lebensqualität: ein Leben in meiner kleinen Wohnung, nach Jahrzehnten der Bevormundung in Psychiatrien, Heimen, WfBs und Betreutem Wohnen. Zugegeben, mit meinen Stimmungsschwankungen und ab und zu mit meinem Antrieb, da ist es nicht so leicht. Gerade im Winter mit den Depressionen, wenn man nicht aus dem Bett kommt und der Mietvertrag es vorsieht, dass um 8 Uhr der Schnee geräumt sein soll. Bei uns Schwaben ist die Kehrwoche immer noch was Heiliges, auf das jeder Nachbar Acht gibt. Oder wenn der Geschirrberg so langsam vor sich hinschimmelt. Dann ist es doch schwierig und ich brauch Unterstützung. Aber wie oft schneit es, wie oft habe ich Kehrwoche und mein Leben besteht nicht nur aus Depressionen oder Krankheit. Ich habe auch gemerkt, dass bei Gesunden der Geschirrberg schimmelt. Der Schimmel ist demokratisch, er wuchert überall, nur wir werden halt öfters beobachtet und stehen schneller in der Gefahr eine wohlmeinende Betreuung abzubekommen, die wir schlecht wieder loswerden. Einerseits soll die Krankheit, das Handikap, nicht unser Leben diktieren, auch wenn es schlimme Phasen gibt. Andererseits ist für mich trotzdem wichtig, dass ich frei bin. Jetzt habe ich eine hypomanische Phase hinter mir. War ich da froh, dass ich nicht in eine Stations- oder Heimordnung eingepresst wurde. Ich konnte duschen, wann ich wollte und brauchte nicht auf die Morgenrunde warten. Wenn man das über Jahre mitgemacht hat, dann ist man über das Stück Freiheit ganz froh und stolz. Auch hier ist darauf zu achten, dass man seine Nachbarn nicht gleich mit lauter Musik morgens um 4 Uhr beglückt. Die Krankheit setzt nicht die Verantwortung, die ich eingegangen bin, außer Kraft.

Das alles soll nicht heißen, dass ich keine Hilfe brauche. Die ach so liebe Sozialpädagogin brauche ich nicht, gegen die wehre ich mich, denn da verliere ich meine Verantwortung und Selbstständigkeit. Die feste Zusage der Klinik, dass wenn ich meine, ein Bett zu brauchen, dass ich dann eins bekomme, gab Sicherheit, auch in der Ausnahmesituation. Die Möglichkeit, den bekannten professionellen Helfer auf der psychiatrischen Station anzurufen oder zum Kaffee vorbeizuschauen, gab Vertrauen. Meinem Niedergelassenen danke ich besonders, denn er räumte mir einen Termin mehr ein, obwohl diese Zeit nicht bezahlt wird. Aber ganz besonders war meine Geheimwaffe für schwierige Zeiten da, nämlich die Frau der ökumenischen Nachbarschaftshilfe, die mir im Haushalt einiges abnahm. Das hört sich nach Luxus an. Ist es auch, wenn man bedenkt, dass nicht mal die Medikamente erhöht wurden und ich trotz allem eine hohe Lebensqualität hatte. Aber es gab keinen Zwang, keinen langwierigen Krankenhaushalt, keine dringenden Sonderhausversammlungen mit Meinungsverschiedenheiten und Konsequenzen. Meine Unruhe und Trauer, die ließ ich beim Spazieren gehen und Fahrrad fahren heraus und meinen Kummer und den Auslöser des Ausnahmezustandes teilte ich meinen Mitbetroffenen aus unserem Landkreis mit und erlebte viel Verständnis und Solidarität. Für mich ist es wichtig, dass ich jemanden habe, dem ich mich mitteilen kann und der mir so nah ist, dass wir zusammen lachen und heulen können. Von dem akzeptiere ich auch, dass er mir sagt, jetzt bist du aber arg schräg drauf. Was wichtig ist, dass ich als Psychiatrieerfahrener meine Krankheit und Ausnahmezustände kenne und dass ich ein mündiger Nutzer unseres psychiatrischen Systems bin und immer wieder werde. Denn jede Psychose ist anders, jede Manie hat andere Höhen und jede Depression hat neue unvorhersehbare Unwägbarkeiten. Das ist oft schwer auszuhalten, gerade für den Angehörigen, aber das bin nun einmal ich und meine Psychose.

Wenn es allzu dicke kommt, dann ja zur Klinik und Verantwortung abgeben. Dann gibt es immer noch die Tagesklinik, mit der wir wieder laufen lernen. Am besten wäre es, wenn wir zu Hause gepflegt würden. Wir kämpfen um Soterias in denen wir uns besser kennen lernen ohne Neuroleptika und Krisenpensionen, wo unsere Angehörigen nicht zu viel Stress durch uns bekommen. Zuhause sein und selbstständig sein hat mehr Lebensqualität und ist billiger, vielleicht kapieren die Verantwortlichen vom Gesundheitssystem das auch mal.

Klaus Laupichler, Herbrechtingen

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