Rehabilitation (Stuttg) 2004; 43(6): 392-393
DOI: 10.1055/s-2004-834575
Bericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Anmerkungen zum 20. Weltkongress von Rehabilitation International im Juni 2004 in Oslo, Norwegen

Some Remarks on the 20th World Congress of Rehabilitation International (RI) Held June 2004 in Oslo, NorwayK.-A.  Jochheim1 , M.  Schmollinger1
  • 1Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter, Heidelberg
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Publication Date:
24 November 2004 (online)

In der Zeit vom 21. - 24. Juni 2004 fand in Oslo der 20. Weltkongress von Rehabilitation International (RI) statt, der etwa 1000 Teilnehmer aus mehr als 60 Ländern zusammenführte. Der Gehalt des Erfahrungsaustausches bei einer solchen Zusammenkunft betrifft üblicherweise einmal allgemeine Trends und zum anderen Einzelerfahrungen mit regionalen Anknüpfungspunkten.

RI hat solche Weltkongresse seit 1929 veranstaltet, um Fortschritte auf dem Gebiet von Prävention und Rehabilitation zu stimulieren und um Ergebnisse der Rehabilitationsarbeit zu bewerten. Anfänglich waren die Kongressbesucher vorwiegend Ärzte, Sozialarbeiter und weitere Teammitglieder aus den sich entwickelnden Rehabilitationseinrichtungen vor Ort.

In der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg begründete der Weltverband ein ständiges Sekretariat in New York (1948) mit engem Kontakt zu Entwicklungsprogrammen verschiedener Sonderorganisationen der Vereinten Nationen, z. B. Unicef und Unesco, aber auch der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf. Ursprünglich vorrangig auf das Aufgabenfeld körperlicher Behinderungen eingestellt, verbreiterte RI 1960 sein Spektrum auf alle Behinderungen und nahm die neue Bezeichnung „International Society for Rehabilitation of the Disabled (ISRD)” an, die Umbenennung in Rehabilitation International (RI) folgte 1969. Mit dem Weltkongress 1980 in Winnipeg (Kanada) ist die Forderung nach stärkerer Beteiligung der Menschen mit Behinderungen und ihrer Organisationen an Strukturen und Forderungskatalogen von RI immer deutlicher geworden. Diesem Anliegen wurde zunächst durch die Wahl von regionalen Vizepräsidenten entsprochen, solange sich eine solche Repräsentanz in den nationalen Mitgliedsverbänden noch nicht entwickelt hatte. Seither sind mehrfach Repräsentanten behinderter Menschen ins Präsidentenamt von RI gewählt worden, zuletzt etwa John Stott † (1992 - 1996), Neuseeland, oder Lex Frieden (2000 - 2004), USA. Den Mitgliedsinstitutionen von RI gehören heute zu einem Drittel Behindertenverbände an, und das Paradigma „Mitwirkung der Menschen mit Behinderung als Experten in eigener Sache” ist im Rehabilitationswesen vieler Mitgliedsländer bereits umgesetzt, hat also seit langem auch die Themenwahl von RI-Weltkongressen entsprechend geprägt.

Allerdings ist das Gefälle zwischen den Industrie- bzw. postindustriellen Ländern und den Entwicklungsländern noch sehr deutlich, weil die Verantwortung für die erforderlichen gesundheitlichen und sozialen Dienste in den Staaten der Welt sehr unterschiedlich verteilt ist und dabei politische Einflüsse und politische Kontrolle oft den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen wenig entsprechen. Daher ist auch jetzt beim Kongress in Oslo die Notwendigkeit des Ausbaues der Rechtsposition behinderter Menschen als Teil der UN-Menschenrechtsdiskussion mehrfach angesprochen worden. Wie bereits im Fall der 1993 verabschiedeten UN Standard Rules on the Equalization of Opportunities for Persons with Disabilities spielt RI auch bei der Vorbereitung einer UN Convention for Rights and Dignity of Persons with Disabilities eine wichtige Rolle.

Mit dem für den 20. Weltkongress gewählten Thema „Rethinking Rehabilitation!” („Rehabilitation neu denken!”) sollte deutlich gemacht werden, dass sich in den Regionen zwar einerseits ganz unterschiedliche Herausforderungen für die Sicherung der Partizipation und Chancengleichheit von Menschen stellen, die von Behinderung bedroht oder betroffen sind, wobei diese mit den ökonomischen, historischen und kulturellen Verschiedenheiten in der Welt zusammenhängen, wie sie sich trotz Globalisierung weiterhin auswirken und nach wie vor länder- bzw. regionspezifische Schwerpunkte für die Gestaltung von Rehabilitationsstrukturen verlangen. Andererseits ist aber der globale Prozess einer Herausbildung gemeinsamer (grund-)rechtlicher, also letztlich auch ethischer Standards für Behindertenpolitik - nicht nur auf UN-Ebene[1] - ebenso wie die Schaffung weltweiter Übereinkünfte über fachliche Begrifflichkeiten, Handlungsgrundlagen und Ziele der Rehabilitation eine Hoffnung, auf die man setzen muss, wenn es darum geht, die noch immer krassen Unterschiede in Versorgung und Lebensmöglichkeiten für behinderte Menschen zu überbrücken, die zwischen Entwicklungs-, sog. Schwellenländern und den wirtschaftsstarken Staaten klaffen.

Als Forum für den Erfahrungsaustausch und für gegenseitiges Lernen all derer, die in der Rehabilitation ihrer Heimatländer an der Gestaltung der Behindertenhilfe verantwortlich mitwirken, will RI besonders auf den Weltkongressen - durchaus auch am Rande der Plenar-, Fach- und Kommissionsveranstaltungen - Möglichkeiten anbieten, um Konzepte, Modelle und Ideen zu diskutieren, die auf der Basis unterschiedlicher Gesellschaften entstanden sind. Das ist außerordentlich sinnvoll in einer Zeit, in der einerseits Aufbau und andererseits Konsolidierung bzw. Umbau des Rehabilitationswesens parallel stattfinden, in der aber überall, wenn auch in unterschiedlichem Maße, Forderungen behinderter Menschen und internationale rechtliche Grundlagen für ihren sozialen Schutz weltweit an Einfluss gewinnen.

Hinsichtlich der Rehabilitationsziele ist die 2001 von der WHO verabschiedete International Classification of Functioning, Disability, and Health (ICF) von weitreichender Bedeutung, weil darin auch die Notwendigkeit der Partizipation von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben einschließlich der beruflichen Tätigkeit deutlich sichtbar gemacht wurde. Mit der ICF liegt auch erstmals ein tief gehendes, global einsetzbares Grundraster für alle Definitionen zur Rehabilitationsarbeit vor, das von der Behindertenbewegung mitbestimmt wurde und weitgehend akzeptiert ist. Die ebenfalls von der WHO propagierte Community Based Rehabilitation (CBR) und die in deren Verständnis von „Behinderung als Gemeinschaftsaufgabe auch kleiner sozialer Netzwerke” entstandenen Teilhabe- und Ausbildungsprogramme haben zumindest in Entwicklungsländern einen vielfach noch uneingelösten Bedarf sichtbar werden lassen und sind daher auch in dem Kongress verschiedentlich sehr betont worden. Dargestellt wurden insbesondere Beispiele aus Norwegen, Australien, Brasilien und den Niederlanden.

Die zahlreichen Diskussionen haben bestätigt, dass die im Rehabilitationsbereich gewonnenen Erfahrungen durch die Mitwirkung der Betroffenen und ihrer Organisationen enorm bereichert worden sind. Es ist aber ebenso deutlich geworden, dass nur die Partnerschaft der rehabilitationsberechtigten Menschen mit sehr unterschiedlichen Fachleuten dieses Erfahrungsfeld in der Breite und Tiefe so entscheidend befruchtet, dass damit sowohl das Schicksal des Einzelnen als auch die Verantwortlichkeit der Gesellschaft und das Aufgabenverständnis der für sie tätigen Leistungsträger wesentlich geprägt werden kann.

Die Inhalte des Osloer Kongressprogramms spiegeln sich auch im Personenkreis der Schlüsselreferentinnen und -referenten wider. So standen etwa Gro Harlem Brundlandt, WHO-Generaldirektorin aus Norwegen, wie auch Judith Heumann (USA) von der Weltbank für die Bedeutung der Arbeit an internationalen Standards der Behindertenhilfe; mit Tom Shakespeare (England), Particia Deegan (Kanada) und Venus Ilagan (Philippinen), Vorstandssprecherin der Disabled Peoples' International (DPI), wurde der Beitrag der Behindertenbewegung für Entwicklungen in Ethik, Wissenschaft und Politik auf dem Gebiet Teilhabeförderung und Gleichstellung betont; der vormalige UN-Behindertenbeauftragte Bengt Lindquist (Schweden) und die ehemalige UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson (Irland) unterstrichen die Bedeutung einer menschenrechtsorientierten Ausrichtung des Behindertenrechts. Florence Sekabira, M. P., aus Uganda oder Ana L. Castillo Garcia, Dominikanische Republik, verdeutlichten u. a. die unter schwierigen Bedingungen schon erreichten Fortschritte der Rehabilitation in der „Dritten Welt” wie auch die unverminderte Bringschuld wohlhabender Gesellschaften für eine soziale Mindestabsicherung der Ärmsten unter den Betroffenen. Die Gruppe der Kongressmitwirkenden in Oslo bestand zu mehr als einem Drittel aus Menschen mit Behinderung.

Die Auswertung der Ergebnisse des Kongresses wird den Weltverband RI und im Rahmen der Rehabilitationsforschung auch Experten aus verschiedenen Disziplinen der Teilhabeförderung für Menschen mit Behinderungen noch geraume Zeit beschäftigen. Es ist bedauerlich, dass - wie in Oslo zu hören war - ein Berichtsband wohl nicht veröffentlicht werden kann. Die Schlüsselreferate und Abstracts der vielfältigen Parallelveranstaltungen sind jedoch auf der Website des 20. Weltkongresses unter www.ri-norway.no zugänglich.

1 So haben z. B. - direkt wie auch indirekt - die europäischen Institutionen (Rat, Kommission und Parlament) seit 1990 nicht unwesentlich die weitere Entwicklung des internationalen Rechts zugunsten von Menschen mit Behinderungen beeinflusst.

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