Psychiatr Prax 2004; 31(3): 115-117
DOI: 10.1055/s-2003-814862
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ökonomie und Praxis

Economics and PracticeChristiane  Roick1 , Matthias  C.  Angermeyer1
  • 1Universität Leipzig, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie
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Publication Date:
25 March 2004 (online)

Die Gesundheitsökonomie, der sich das vorliegende Heft der Psychiatrischen Praxis widmet, gehört sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch im Bereich der Forschung zu den gegenwärtig besonders heftig umstrittenen Themen. Dabei beginnen die Meinungsverschiedenheiten schon bei der Begriffsdefinition.

Als auf der wissenschaftlichen Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik die Frage nach einer Definition für Gesundheitsökonomie gestellt wurde, war die Antwort: „1. Gesundheitsökonomie ist das, was Gesundheitsökonomen machen; und 2. ein Gesundheitsökonom ist keiner, der die Gesundheitsausgaben schon deshalb für zu hoch hält, weil sie zu hoch sind” ([1], S. 657).

In Anbetracht des offensichtlichen Fehlens einer einheitlichen Begriffsdefinition kommt Graf von der Schulenburg, einer der renommiertesten Gesundheitsökonomen Deutschlands, zu dem Schluss: „Gesundheitsökonomie ist einfach die Analyse der wirtschaftlichen Aspekte des Gesundheitswesens unter Verwendung von Konzepten der ökonomischen Theorie” ([2], S. 16). Dagegen betont Reiner Leidl: „Gesundheitsökonomie ist aber keine Kostendämpfungslehre - obwohl sie die Gründe des Kostenwachstums kennen und die Wirkung von Dämpfungsmaßnahmen aufzeigen können muss” ([3], S. 78). Am weitesten vor wagt sich jedoch Deutschlands prominentester Gesundheitsökonom, Karl Lauterbach, wenn er feststellt: „Gesundheitsökonomische Analysen verbessern die Struktur, Prozess- und Ergebnisqualität der Versorgung” ([4], S. 121).

Die aktuellen Entwicklungen im Gesundheitswesen lassen jedoch einige Zweifel daran aufkommen, ob die Gesundheitsökonomie in der Praxis tatsächlich zu einer Verbesserung der medizinischen Versorgung beitragen kann, oder ob sie nicht eher für Kostendämpfungsmaßnahmen instrumentalisiert wird. Schließlich werden originäre gesundheitsökonomische Erkenntnisse, die auf eine effiziente Gesundheitsversorgung und eine optimale Ressourcenallokation zielen, im klinischen Alltag derzeit so gut wie nicht berücksichtigt [5]. Was momentan politisch und praktisch umgesetzt wird, sind Vorschläge zur Rationierung, nicht aber zur Rationalisierung.

Ein Beispiel ist die ambulante Soziotherapie, die nach den Erfahrungen eines Modellprojekts die Lebensqualität chronisch psychisch Kranker verbessert und gleichzeitig zu einer Kostenersparnis führt, die das drei- bis sechsfache der Soziotherapiekosten beträgt [6]. Trotzdem ist dieses Therapiekonzept bislang nur ein „Papiertiger” geblieben [7]. Es kann zwar seit dem 1.1.2002 verordnet werden, aber die Zugangsvoraussetzungen der Kassen sind so hoch, dass bisher fast alle Anträge potenzieller Anbieter scheiterten. Es ist daher zu befürchten, dass eine flächendeckende Einführung der ambulanten Soziotherapie nicht gelingen wird.

Damit tut sich die Frage auf, warum sich die Umsetzung gesundheitsökonomischer Erkenntnisse in der Praxis so schwierig gestaltet. Blockieren die Kassen so offensichtlich effiziente Maßnahmen wie die ambulante Soziotherapie etwa deshalb, weil sie nicht daran glauben, in der Routineversorgung tatsächlich die prognostizierten Einsparungen erzielen zu können?

Für diese Vermutung würde zum einen sprechen, dass gesundheitsökonomische Untersuchungen in der Regel in einem speziellen Kontext durchgeführt werden, so dass die Übertragung der Ergebnisse auf andere Regionen, einen anderen Fallmix oder anders umgesetzte Interventionsstrategien ausgesprochen schwierig ist [8] [9]. Erschwerend kommt in Deutschland hinzu, dass nur relativ ungenaue epidemiologische Daten verfügbar sind, und dass die Fragmentierung des Versorgungssystems die Ermittlung der tatsächlichen Behandlungskosten kompliziert macht [10].

Ein wichtiger Punkt ist zudem, dass gesundheitsökonomische Analysen noch zu selten berücksichtigen, dass die Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen unter experimentellen Bedingungen meist deutlich höher ist, als im klinischen Routineeinsatz [11] [12] [13]. Dabei spielt vor allem eine Rolle, dass die Compliance der Patienten unter experimentellen Bedingungen besser ist, und dass Therapieabbrecher in der Regel von der Auswertung ausgeschlossen werden. Überdies wird vermutet, dass auch das medizinische Personal in Modellprojekten engagierter ist als im klinischen Alltag [12].

Auch die große Heterogenität und die teilweise geringe methodische Qualität gesundheitsökonomischer Untersuchungen beeinträchtigen die Akzeptanz bei den Entscheidungsträgern im Gesundheitswesen [14]. So gibt es beispielsweise keine einheitliche Methode um eines der wichtigsten gesundheitsökonomischen Outcomekriterien - die Lebensqualität der Patienten - zu bestimmen. Daher verändert sich, je nachdem für welche Methode man sich entscheidet, auch das Ergebnis [15]. Deshalb wird immer wieder gefordert, bessere methodische Standards zu etablieren, die Vergleiche zwischen unterschiedlichen Analysen ermöglichen und die wissenschaftliche Qualität der Studien sichern [16]. Dabei handelt es sich jedoch um eine Gratwanderung, da eine stärkere Standardisierung auch negative Auswirkungen haben kann, indem sie neue Untersuchungsansätze in einem noch entwicklungsbedürftigen Fachgebiet unterdrückt.

Die bislang genannten Kritikpunkte, die eine Umsetzung gesundheitsökonomischer Erkenntnisse in die Praxis erschweren, liegen hauptsächlich in der Verantwortung der Wissenschaftler, die gesundheitsökonomische Untersuchungen durchführen. Mindestens ebenso hinderlich für den Praxistransfer sind jedoch strukturelle Probleme im Gesundheitswesen, die von der Forschung kaum beeinflusst werden können. So ist hinlänglich bekannt, dass die praktische Realisierung gesundheitsökonomischer Erkenntnisse weitgehend davon abhängt, ob es geeignete Anreizsysteme gibt, welche die Leistungsanbieter zum Einsatz effizienterer Methoden und damit zu einem Abgehen von ihrem bislang gewohnten Vorgehen bewegen [17]. Wie schwierig es ist, solche Anreizsysteme zu finden, zeigt die gegenwärtige Debatte um die Einführung der DRGs. Während die klassischen stationären Pflegesätze einen Anreiz zur Ausweitung der Behandlungsdauer setzen, motivieren die neuen DRGs zwar zu einer Verkürzung der stationären Verweildauer, aber auch zu einer Ausweitung der Behandlungsfälle. Die angestrebten kurzen Krankenhausaufenthalte können sich zudem negativ auf die Behandlungsqualität auswirken, da sie vermehrte Rückfälle und eine erhöhte Mortalität im ambulanten Bereich nach sich ziehen können sowie zu einer Zunahme der Verlegungen in Pflegeeinrichtungen führen [18]. Daher wird von vielen schon jetzt bezweifelt, ob die Einführung der DRGs tatsächlich eine Reduktion der GKV-Ausgaben ermöglichen wird [19] [20].

Ein anderes Hemmnis bei der praktischen Umsetzung gesundheitsökonomischer Erkenntnisse ist die im Gesundheitssektor häufig anzutreffende separate Budgetverantwortung unterschiedlicher Kostenträger [21]. Sie kann beispielsweise dazu führen, dass ein neues Therapiekonzept, das die Arbeitsfähigkeit erwerbsunfähiger Patienten wieder herstellt, bei den Krankenkassen trotz einer insgesamt positiven Kosten-Nutzen-Relation nur geringes Interesse findet, weil die Kassen zwar die Kosten für diese Maßnahme tragen müssten, aber nur die Rentenversicherungsträger davon profitieren würden. Diese paradoxe Situation wird in Deutschland noch dadurch verstärkt, dass es zwischen den rund 350 gesetzlichen Krankenkassen nur einen Preiswettbewerb, aber kaum einen Leistungswettbewerb gibt, da 97 % der Kassenleistungen gesetzlich vorgeschrieben sind und somit wenig Raum für ein eigenes Angebotsprofil bleibt.

Die erwähnten Kritikpunkte zeigen, dass sowohl die strukturellen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen als auch die wissenschaftliche Qualität der Untersuchungen verbessert werden müssen, wenn es gelingen soll, gesundheitsökonomische Erkenntnisse künftig auf einer breiteren Basis in die Praxis umzusetzen.

Trotz der diskutierten Einschränkungen bleibt jedoch unbestritten, dass gesundheitsökonomische Untersuchungen sinnvoll und wichtig sind, weil sie eine Basis für rational begründete Entscheidungen im Gesundheitswesen darstellen und die Kosten- sowie die Gesundheitsimplikationen von Handlungsalternativen aufzeigen [17] [22]. Damit gesundheitsökonomische Erkenntnisse aber tatsächlich zur Optimierung der Ressourcenallokation eingesetzt und nicht zur Sanktionierung staatlich verordneter Sparmaßnahmen missbraucht werden, sollten die Wissenschaftler sich stärker für die Umsetzung ihrer Ergebnisse engagieren und sich nicht darauf berufen, dass sie nur die Daten liefern und alles, was weiter damit geschieht, Sache der Politik ist. Sonst besteht die Gefahr, dass das noch junge Fachgebiet zu einer von der Versorgungsrealität abgekoppelten Theorie wird, die vor lauter Gesundheitsökonomie die Krankheit der Patienten aus den Augen verliert.

Literatur

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  • 22 Schöffski O, Greiner W. Das QALY-Konzept zur Verknüpfung von Lebensqualitätseffekten mit ökonomischen Daten. In: Schöffski O, Glaser P, Graf vd Schulenburg JM Gesundheitsökonomische Evaluationen: Grundlagen und Standortbestimmung. Berlin; Springer 1998: 203-222

Dr. med. Christiane Roick,MPH 

Universität Leipzig · Klinik für Psychiatrie

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04317 Leipzig

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