Psychother Psychosom Med Psychol 2001; 51(5): 189-190
DOI: 10.1055/s-2001-13283
EDITORIAL
Editorial
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Psychotherapeuten ins Gefängnis!

Psychotherapists to Prison!
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Zur Verwirklichung der in der Überschrift genannten Aufforderung stehen zwei Wege offen, die bisher beide wenig beschritten werden. Der erste, zweifellos nicht empfehlenswert, führt über den am 1. 7. 1997 neu eingeführten § 174 c, Abs. 2 des Strafgesetzbuches. Er stellt den sexuellen Missbrauch von PatientInnen im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen unter Strafandrohung. Bisher liegen dazu erst wenige Urteile vor, zumal Täter und Opfer sowie die Fachverbände und Ärztekammern meist sehr darum bemüht sind, die beschämenden Ereignisse nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.

Der zweite Weg führt über das am 26. 1. 1998 verkündete Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten. Von den Psychotherapieverbänden weitgehend unbeachtet, hat sich in den vergangenen Jahren ein großes, bisher wenig beackertes Feld psychotherapeutischer Tätigkeit wesentlich erweitert: die Straftäterbehandlung in und außerhalb von Justizvollzugsanstalten. Ab einer bestimmten Strafdauer haben Gewalt- und Sexualstraftäter einen Anspruch auf Behandlung im Vollzug, weil der Gesetzgeber, d. h. die Gesellschaft, will, dass sie nicht nur eine Strafe absitzen, sondern auch die Gelegenheit erhalten, sich in der Weise zu verändern, dass sie nach einer Entlassung nicht erneut straffällig werden. Auch die bedingte Entlassung, zum Beispiel zum Zweidrittel-Zeitpunkt, wird jetzt nur noch nach vorausgegangener erfolgreicher Behandlung (und zusätzlicher prognostischer Begutachtung) ausgesprochen.

Die einzelnen Landesjustizverwaltungen haben sich in unterschiedlicher Form auf diese Erfordernisse vorbereitet. Manche schulten schon bisher im Justizvollzug tätige Mitarbeiter im Schnellverfahren, andere versuchten, niedergelassene Psychotherapeuten für diese Arbeit zu gewinnen, wieder andere wissen noch immer nicht, wie sie den an sie gestellten Erwartungen wirklich begegnen können. Externe Psychotherapeuten für Straftäterbehandlungen zu gewinnen, ist offenbar sehr schwierig. Am Brennpunkt der Straftäterbehandlung scheiden sich oft die Geister. Die Vorurteile gegen Behandlung im „Zwangskontext”, gegen Behandlung so genannter unmotivierter Patienten sind Legion, und die Angst davor, über seine Behandlung eventuell vor Gericht Auskunft geben zu müssen, wenn es zum Beispiel um Entlassungsentscheidungen oder prognostische Beurteilungen geht, ist groß.

In der beeindruckenden Übersicht „Current Treatments of Paraphiliacs” (Abel et al. 1992) [1] nahmen Rückfallpräventionsprogramme eine zentrale Stellung ein. Sie waren im Kontext von Drogen- und Alkoholabhängigkeitstherapien entwickelt worden und die Antwort auf die Erkenntnis, dass mit traditionellen Behandlungen zwar Abstinenz erreicht werden konnte, die Klienten nach Abschluss der Behandlungen aber meist in kurzer Zeit und großer Zahl wieder rückfällig wurden. Im Jahr 1983 übertrugen Pithers et al. (1992) [2] das Konzept der Rückfallprävention auf die Sexualstraftäterbehandlung. Dort hatte man nämlich die gleichen Beobachtungen gemacht: Behandlungserfolge erwiesen sich als nicht stabil. Rückfallpräventionsprogramme sollten diesem Missstand abhelfen. Psychodynamische Therapien für Sexualstraftäter wurden von Abel et al. (1992) [1] aus drei Gründen für obsolet erklärt:

1. weil sie sexuell gewalttätiges Verhalten nicht hätten stoppen können, 2. weil neuere Untersuchungen gezeigt hätten, dass die meisten Sexualstraftäter nicht an anderen psychischen bzw. psychiatrischen Störungen litten, weshalb Behandlungsprogramme, die auf untergründige Konflikte abzielten, überflüssig seien, und schließlich 3. wegen der generellen Abkehr von teuren Langzeittherapien, die als Charakteristikum psychodynamischer Psychotherapien gelten.

Noch immer gilt das 1. Argument, insofern so gut wie keine neueren Studien mit größerer Stichprobenzahl über psychodynamische Psychotherapien mit Sexualstraftätern vorliegen. Entweder befassen sich Psychoanalytiker gar nicht mit dieser Klientel, oder sie tun dies nur als Einzelkämpfer und publizieren allenfalls Fallstudien. Im psychodynamisch orientierten Handbuch ,,Forensic Psychotherapy” (Cordess u. Cox 1996) [3] finden sich keine empirisch abgesicherten Behandlungsergebnisse zur Sexualtäterbehandlung. Im von Bergin u. Garfield (1994) [4] herausgegebenen schulenübergreifenden ,,Handbook of Psychotherapy and Behavior Change” fehlt der forensische Sektor ganz.

Das 2. Argument, Straftäter litten nicht unter psychischen und psychiatrischen Störungen, mag für Gefängnispopulationen zutreffen, sicher jedoch nicht für im Maßregelvollzug untergebrachte Sexualstraftäter. Aber selbst für Gefängnispopulationen ist es mit großen Fragezeichen zu versehen. Seit Einführung der ICD-10 bzw. des DSM-IV und der genaueren Erfassung von Komorbiditäten dürfte es in dieser Allgemeinheit jedenfalls nicht mehr stimmen.

Das 3. Argument, das sich auf die lange Dauer psychodynamischer Behandlungen bezieht, verspricht, mit den Rückfallpräventionsprogrammen preisgünstige und schnell wirksame Behandlungen durchführen zu können. Dies ist ein Versprechen, mit dem alle neuen Therapierichtungen antreten. Meist lösen sie es kurzfristig ein, solange nämlich der Pioniergeist der Erfinder der jeweils neuen Methode wirksam ist und nur ausgewählte Stichproben von Klienten behandelt werden. Je etablierter eine Methode ist, desto mehr wird meist die Indikation erweitert, und man stößt dann auf schwierige Fälle, die mehr Aufwand erfordern. Als sich die Verhaltenstherapie erstmals der sexuellen Deviationen annahmen, erzielte sie mit ihren manchmal drastischen Aversionsprogrammen rasche Erfolge. Die Metaanalyse von Hall (1995) [5] belegte inzwischen, dass Aversionstherapie langfristig ungünstige Auswirkungen haben. Auch die kognitiv-behavioralen Programme erbrachten keine Dauererfolge, sonst hätte sich die Entwicklung von Rückfallpräventionsprogrammen erübrigt. Nach Laws (1999) [6] mangelt es auch für die Rückfallpräventionsprogramme für Sexualtäter noch an empirischer Validierung. Im Übrigen finden sich nirgends so lange Behandlungszeiten wie bei Straftätern. Die durchschnittlichen Aufenthaltsdauern in Maßregelkliniken, also in stationären Einrichtungen für gerichtlich untergebrachte psychisch kranke Straftäter, übertreffen alles, was in der stationären, aber auch was in der ambulanten psychosomatisch-psychotherapeutischen Versorgung finanziert wird.

Psychotherapeuten und Psychotherapieforscher, die sich hier nicht engagieren, lassen sich ein äußerst interessantes und auch erfolgversprechendes Arbeitsfeld entgehen. Daher unser Rat: ab ins Gefängnis.

Literatur

  • 1 Abel G G, Ostborn C, Anthony D, Gardos P. Current treatments of paraphiliance.  Ann Rev Sex Res. 1992;  3 255-290
  • 2 Pithers W D, Marques J K, Gibat C C, Mariat G A. Relapse prevention with sexual aggressives: A self-control model of treatment and maintenance of change. In: Gree JG, Stuart IR (eds) The sexual aggressor. New York; Van Nostrand Reinhold 1983: 214-239
  • 3 Cordess C, Cox M. (Hrsg) .Forensic psychotherapy. Crime, psychodynamics and the offender patient. London, Philadelphia; Jessica Kingsley Publishers 1996
  • 4 Bergin A, Gardield S. (Hrsg) .Handbook of psychotherapy and behavior change, 4. Aufl. New York; John Wiley & Sons 1994
  • 5 Hall G CN. Sexual offender recidivism revisited: A meta-analysis of recent treatment studies.  J Cons Clin Psychol. 1995;  63 802-809
  • 6 Laws D R. Relapse Prevention. The state of the art.  J Interpers Violence. 1999;  14 285-302

Friedemann Pfäfflin,
Horst Kächele, Ulm

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