Psychiatr Prax 2010; 37(8): 409-411
DOI: 10.1055/s-0030-1268364
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York

Unsere Mao-Bibel hieß: "Irrenhäuser, Kranke klagen an"

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Publication Date:
05 November 2010 (online)

 

Nachtrag und Ergänzung zu: "Ein heimlicher Wegbereiter der Psychiatrieenquete" von Eckart Klaus Roloff, Psychiat Prax 2010; 37: 311

Frank Fischer [1] ist mehr als ein "heimlicher Wegbereiter" der bundesdeutschen Psychiatriereform. Sein Buch löste damals, 1969, einen nie da gewesenen Wirbel innerhalb und außerhalb der Psychiatrie aus. Endlich, muss man sagen! Das Buch hatte nicht nur ein überwältigendes Medienecho. Seine Veröffentlichung übte, wie Heinz Schott und Rainer Tölle in ihrer Geschichte der Psychiatrie [2]) schreiben, starken Einfluss aus und wurde zu einer der "Schubkräfte der deutschen Psychiatriereform". Die von Roloff beschriebenen Abwehrreaktionen der Spitzen der Anstaltspsychiatrie treffen zu, aber nicht nur. Fischer fand auch viel Zustimmung, insbesondere bei der jüngeren Generation der in der Psychiatrie Tätigen. Die Erinnerung von Ulla Schmalz [3], die sich in der Überschrift dieses Beitrages spiegelt, trifft die Gefühle vieler von uns Psychiatrieanfängern jener Jahre ziemlich genau. "Irrenhäuser" legitimierte unsere Wut. Ihre – und unsere – "bahnbrechenden Forderungen" von damals muten heute grotesk an:

Abschaffung der Anstaltskleidung, Jedem Patienten seine eigene Zahnbürste, Jedem Patienten seine eigene Unterwäsche, Jedem Patienten seinen eigenen Nachtschrank.

Und hier noch einmal Schott und Tölle: "Öffentlichkeit und Politik wurden wachgerüttelt, waren zum Teil auch schockiert. Seit Fischers Buch gab es kein Zurück mehr zu den herkömmlichen Verhältnissen." Ich bin mir sicher, dass die vielen Tagungen zur Psychiatrie und den skandalösen Verhältnissen der Psychiatrie des Jahres 1970, die die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform in den Mittelpunkt stellten, ohne Fischers Buch so nicht stattgefunden hätten. Ein Gespräch über sein Buch war auch der Anlass dafür, dass Rainer Flöhl mich einlud, für die Wissenschaftsredaktion der FAZ zu schreiben. Meinen erster Beitrag vom 17. Dezember 1969 [4] hatte die Redaktion mit der Überschrift "Das Elend der Krankenhauspsychiatrie" versehen.

Über 3 Schlüsselveranstaltungen, die im Oktober 1970 innerhalb von 4 Tagen stattfanden und den Bestrebungen um die Reform der psychiatrischen Krankenversorgung in der Bundesrepublik meines Erachtens eine Wendung gaben, will ich hier berichten: Die Gütersloher Fortbildungstage mit dem Tag der Studenten, die erste Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages zur Lage der psychisch Kranken in Bonn und die von Hans Lauter und Joachim Ernst Meyer organisierte Tagung "Der psychisch Kranken und die Gesellschaft" in der Evangelischen Akademie Loccum vom 9.–11. Oktober.

Literatur

  • 01 Fischer F . Irrenhäuser. Kranke klagen an. München: Desch; 1969
  • 02 Schott H R, Tölle W . Geschichte der Psychiatrie München: C. H. Beck.  2006; 
  • 03 Schmalz U . Hilfe in der Klinik.  Sozialpsychiatrische Informationen. 2002;  2 2-4
  • 04 Finzen A . Das Elend der Krankenhauspsychiatrie.  FAZ. 1969;  292 24
  • 05 Lauter H , Meyer J E Hrsg.. Der psychisch Kranke und die Gesellschaft. Stuttgart: Thieme; 1972
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