Psychiatr Prax 2006; 33(7): 355-356
DOI: 10.1055/s-2006-954424
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Lebensqualität psychisch kranker Rechtsbrecher: Randbemerkungen aus Sicht des Forensikers

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03 January 2007 (online)

 

Wissenschaftliche Arbeiten zu Fragen von Lebensqualität psychisch kranker Rechtsbrecher liegen kaum vor; grobe Annäherungen finden sich in Qualitätsmanagementbestrebungen, indem Angaben zur Patienten- (und Mitarbeiter-)zufriedenheit in forensischen Settings erhoben wurden. Die (psychiatrische) Versorgungsforschung hat bisher wenig Kenntnis von psychisch kranken Straftätern genommen; einige indirekte Hinweise zum Thema Lebensqualität der forensischen Klientel lassen sich aus Forschungen an und über chronisch psychisch Kranke herleiten [1]-[4].

Unser Strafrecht sieht eine privilegierte Behandlung psychisch kranker Menschen vor. Die "Rechtswohltaten" der Straffreiheit (§20 StGB) bzw. der Strafminderung (§21 StGB) werden aber teuer erkauft. Wurden nämlich gravierende Rechtsbrüche begangen - "gravierend" sind bereits Körperverletzungen - und ist krankheitsbedingt von weiteren solchen Taten auszugehen, hat das Gericht die Maßregel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen (§63 StGB). Diese zeitlich unbefristete Unterbringung zählt zusammen mit der Sicherungsverwahrung und der lebenslangen Freiheitsstrafe zu den beschwerendsten Maßnahmen, die unser Strafrecht kennt. Dabei liegen ihre rechtlichen Voraussetzungen deutlich niedriger als die für die beiden anderen Maßnahmen. Hierin ist eine Diskriminierung psychisch kranker Rechtsbrecher zu sehen. Im Januar 1998 hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen einer bedingten Entlassung aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug deutlich verschärft. Genügte es früher, dass es "verantwortet werden kann zu erproben", ob zukünftig keine rechtswidrigen Taten mehr begangen werden, dürfen seit Ende Januar 1998 Entlassungen nur erfolgen, wenn "zu erwarten" ist, dass keine rechtswidrigen Taten mehr begangen werden. Diese Neuregelung hat in einigen Regionen der Republik zu ganz erheblichen Verlängerungen der Unterbringungsdauern geführt.

Gemessen an gängigen Parametern zur Lebensqualität (Gesundheit, Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand, am öffentlichen, kulturellen und Berufsleben sowie die Möglichkeit zu einem selbst bestimmten Leben) wird diese durch eine Unterbringung im Maßregelvollzug zweifellos gravierend eingeschränkt, was Fragen der Anordnung, Dauer und konkreten inhaltlichen Ausgestaltung einer Maßregel zu wichtigen Kennwerten der Lebensqualität psychisch kranker Rechtsbrecher macht.

Insoweit liegt bereits in der Vermeidung der Anordnung einer Maßregel eine Option, die Lebensqualität psychisch kranker Rechtsbrecher entscheidend zu verbessern. Vermeidung der Unterbringung heißt allerdings, dass diese Patienten im Vorfeld, während sie noch in der Zuständigkeit der Allgemein- und Gemeindepsychiatrie sind, eine intensive, auch kriminal-präventive Behandlung erfahren müssen [5]. Diese aber findet - vorzugsweise mit dem Argument, dass assertive Vorgehensweisen die Lebensqualität allzu sehr beeinträchtigen - oft nicht statt.

Die gegenwärtig zu beobachtende Transinstitutionalisierung hin zur Forensik mag mit dadurch verursacht sein, dass Lebensqualität vom Allgemeinpsychiater primär im Hier und Jetzt, quasi als Momentaufnahme und nicht unter dem Gesichtspunkt langfristiger Risiken für eben diese Qualität gesehen wird. Nachdem erst jüngst wieder höchstrichterlich (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 1.2.2006; BVerfGE 58, 208, 224ff) festgeschrieben wurde, dass (nahezu) jeder eine "Freiheit zur Krankheit" hat, sind ambulante Behandlungsauflagen im Rahmen der Führungsaufsicht die in unserem Rechtssystem einzig möglichen Garanten einer dauerhaften Behandlung bei fragiler Compliance. Hier sind forensische Patienten tatsächlich privilegiert, lässt sich ihre Lebensqualität doch nachweislich durch Maßnahmen ambulanter forensischer Nachsorge in Form aktiver Unterstützung bei der gesellschaftlichen Resozialisierung deutlich verbessern [6]. Diese Verbesserung zeigt sich sowohl im Vergleich zur langjährigen "prä-forensischen" Krankheitsdauer dieser Patienten als auch im Vergleich zu nicht "forensifizierten" chronisch psychisch Kranken. Wissenschaftliche Arbeiten aus Ländern, in denen ambulante Behandlungsmaßnahmen auch außerhalb strafgerichtlicher Weisungen zulässig sind, zeigen, dass sich so Rehospitalisierungen, Gewalthandlungen sowie eigene Viktimisierung verringern und Compliance sowie Parameter von Lebensqualität steigern lassen [7],[8].

Gleichwohl darf nicht übersehen werden, dass für nicht wenige psychisch Kranke, die gravierende zusätzliche Störungen (z.B. Polytoxikomanie, dissoziale Persönlichkeitsstörung, Lernbehinderung) bei gleichzeitig fehlender Krankheitseinsicht haben, in der derzeitigen "Versorgungslandschaft" nur noch im psychiatrischen Maßregelvollzug die erforderliche intensive, multidimensionale Behandlung [9],[10] hinreichender Dauer stattfindet und so eine solide Basis für spätere, erhöhte extramurale Lebensqualität gelegt werden kann.

Wenn eine psychische Erkrankung ein solches Ausmaß hat, dass auch bei schwersten Taten die Bestrafung unterbleiben muss, weil das Individuum hierfür schlechterdings nicht verantwortlich gemacht werden kann, so erscheint es widersinnig, ihm die Verantwortung für die Behandlung gerade jener Erkrankung zu überlassen, die Basis seiner Gefährlichkeit ist. Gerade wegen der mit einer strafrechtlichen Unterbringung stets und dann oft für einen sehr langen Zeitraum gegebenen massiven Einschränkung der Lebensqualität sollte dies eigentlich ideologie- und vorurteilsfrei zu diskutieren sein. Wenn die "Freiheit zur Krankheit" zum "Recht auf Straftat" führt, ist dies schon unter dem Aspekt der Lebensqualität des Individuums, das in der Konsequenz untergebracht wird, höchst fragwürdig. Für den Forensiker aber ist es auch deshalb inakzeptabel, als er die Lebensqualität potenzieller Opfer zukünftiger Straftaten im Auge zu behalten hat. Die Opfer von Gewalttaten müssen nicht selten lebenslange und massive Einschränkungen ihrer Lebensqualität hinnehmen. Letztendlich ist zu bedenken, dass mit jeder von einem psychisch Kranken begangenen Straftat das Stigma aller psychisch Kranken erhöht wird.

Dass in ganz Europa die Zahl der Forensikbetten - teils dramatisch - im Ansteigen begriffen ist [11]-[14], mag nicht nur, aber auch mit sicherlich gut gemeinten, aber realitätsfremden Überlegungen zu Lebensqualität und Stigma psychisch Kranker zusammenhängen.

Rüdiger Müller-Isberner, Roland Freese, Klinik für forensische Psychiatrie Haina, Eichberg

Literatur

  • 01 Franz M . Ehlers F . Meyer T . Hessische Enthospitalisierungsstudie.  LWV Hessen. 1998; 
  • 02 Franz M . Meyer T . Matheis M . Lebenssituation von Menschen mit chronisch psychischen Erkrankungen als "Neue Langzeitbewohner/innen" in zentralen psychiatrieangegliederten Heimen in Hessen. (Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Sozialpsychiatrie, Klinikum der Justus-Liebig Universität Giessen).  Wiesbaden: Hessisches Sozialministerium. 2002; 
  • 03 Lambert M . Naber D . Current Issues in Schizophrenia: Overview of Patient Acceptability, Functioning Capacity and Quality of Life.  CNS Drugs. 2004;  18 (S2) 5-17
  • 04 Pinikahana J . Happell B . Hope J . Keks NA . Quality of Life in schizophrenia: A review of the literature 1995 to 2000.  Int J Ment Health Nursing. 2002;  11 103-111
  • 05 Hodgins S . Müller-Isberner R . Preventing crime by people with schizophrenic disorder: the role of psychiatric services.  B J Psychiatry. 2004;  185 243-250
  • 06 Freese R . Ambulante Versorgung psychisch kranker Straftäter.  Lengerich: Pabst. 2003; 
  • 07 Swartz MS . Swanson JW . Involuntary outpatient commitment, community treatment orders, and assisted outpatient treatment: What's in the data?.  Can J Psychiatry. 2004;  49 585-591
  • 08 Gibbs A . Dawson J . Ansley C . Mullen R . How patients in New Zealand view community treatment orders.  JMH. 2005;  14 357-368
  • 09 Bloom J . Muesers K . Müller-Isberner R . Treatment Implications of the Antecedents of Criminality and Violence in Schizophrenia and Major Affective Disorders. In: Hodgins S (Hrsg): Effective Prevention of Crime and Violence among Persons with Major Mental Disorders.  Dortrecht: Kluver. 2000;  431-446
  • 10 Müller-Isberner R . Hodgins S . Evidence-based treatment for mentally disordered offenders. In S. Hodgins & R. Müller-Isberner, R. (Hrsg): Violence, Crime, and Mentally Disordered Offenders.  Chichester: Wiley. 2000;  7-38
  • 11 Kramp P . Schizophrenia and crime in Denmark.  Crim Behav Ment Health. 2004;  14 231-237
  • 12 Munk-Jørgenson P . Has deinstitutionalisation gone too far?.  Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 1999;  249 136-143
  • 13 Priebe S . Badesconyi A . Fioritti A . Hansson S . Kilian R . Torres-Gonzales F . Turner T . Wiersma D . Reinstitutionalisation in mental health care: comparison of data on service provision from six European countries.  BMJ. 2005;  330 123-126
  • 14 Schanda H . The Ashenputtel principle in modern mental health care.  Crim Behav Ment Health. 1999;  9 199-204
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