Psychiatr Prax 2006; 33(7): 354-355
DOI: 10.1055/s-2006-954423
Fortbildung und Diskussion
Szene
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Leben und leben lassen - Versuch über "Lebensqualität" aus Sicht der Familien mit psychisch Kranken

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Publication Date:
13 October 2006 (online)

 

Zu den ergreifendsten Momenten, die ich im Lauf meiner ehrenamtlichen Arbeit in der Familien-Selbsthilfe Psychiatrie erlebt habe, gehört eine Szene auf dem Gießener Psychiatrietag im Jahr 2004, der unter dem Stichwort "Visionen" stand und natürlich trialogisch organisiert war. Was denn ihre Zukunftsvision sei, wurden die Podiumsteilnehmer in der Schlussrunde gefragt. Während sich die anderen wortreich mit ihren "Visionen" plagten, genügte einem Betroffenen, einem netten jungen Kerl, ein einziger und ganz unspektakulärer Satz: "Ich möchte ein ganz normales Leben führen" - ich glaube, er sagte sogar: ein stinknormales Leben. Das Herz wird einem schwer, wenn man einen solchen ebenso bescheidenen wie unfassbaren Wunsch aus dem Mund eines jungen Menschen hört. Ein stinknormales Leben - wäre das Lebensqualität?

Lebensqualität ist einer jener heimtückischen Begriffe, die - von Wissenschaftlern in die Welt gesetzt - plötzlich in aller Munde sind und unter deren glatter Oberfläche sich mancherlei Untiefen verbergen. Es ist hier nicht der Ort, darauf einzugehen, ich möchte dennoch ein gewisses Unbehagen darüber nicht verschweigen.

Dies vorausgeschickt, kann es den Familien mit psychisch Kranken natürlich nur recht sein, dass sich Wissenschaft und Politik nicht mehr lediglich um formale und statistische Kriterien des Hilfesystems kümmern wollen, hängt es doch darüber hinaus auch von einer Vielzahl "weicher" und individueller Faktoren ab, ob eine Familie oder ein Erkrankter mit dem Leben zurechtkommt oder nicht. Wenn sich nun der Blick verstärkt auf die Betroffenen selbst und ihre Lebenswirklichkeit richtet, so entspricht das einer immer wieder vorgebrachten Forderung der Familien mit psychisch Kranken und ihrer Organisation, dem Bundesverband und den Landesverbänden der Angehörigen.

Für Angehörige psychisch kranker Menschen hat der Begriff Lebensqualität zwei Seiten: einmal ihre eigene Lebensqualität, zum anderen die des erkrankten Familienmitglieds. Ohne Zweifel sind es zwei Seiten derselben Medaille.

Ein regelmäßig von Angehörigen zu hörender Satz ist denn auch: "Wenn es dem Kranken gut geht, geht es auch uns gut". Das ist nachvollziehbar, auch wenn die Gleichung nicht immer völlig aufgeht. Angehörige haben auch "eigene" Probleme, die mit der psychischen Erkrankung des Familienmitglieds nichts zu tun haben, etwa Partnerprobleme oder schwere Erkrankungen, die zuweilen ganz plötzlich andere Schwerpunkte erzwingen als die Sorge um das psychisch kranke Familienmitglied.

So kurios es anmutet: ein Merkmal für Lebensqualität von Familien und "ihren" psychisch erkrankten Mitgliedern könnte sein, dass der Kranke nicht mehr die Hauptperson ist, sondern dass auch andere Probleme zugelassen, besprochen und bewältigt werden können.

Lebensqualität bedeutet für mich im Blick auf die Familien-Selbsthilfe Psychiatrie, zusammen leben zu können und jeden zu seinem Recht kommen zu lassen - leben und leben lassen. Der manchmal gehörte Vorschlag jedoch, Psychosekranke ihre Krisen einfach "ausleben zu lassen", geht an der Wirklichkeit vorbei. Niemand lebt auf einer Insel; die Aufgabe, das Zusammenleben der Menschen zu organisieren, ist so unausweichlich wie komplex und geht bis in die subtilsten Verhaltensregeln und Reaktionsmuster. Insgesamt entsteht so ein dichtes, wenn auch im täglichen Leben meist unreflektiertes Netz, das uns hält, aber auch fesselt. Der Umgang mit Ausbrüchen, Grenzverletzungen - eben mit dem "Anderssein" - ist nicht einfach eine Sache von Verständnis und gutem Willen; Angehörige von psychisch Kranken wissen und erleben das täglich. Mit Appellen an Toleranz oder politische Korrektheit und Kampagnen gegen Stigmatisierung ist es jedenfalls nicht getan. Gefragt sind Netzwerkarbeit und Flexibilität an der Basis sowie politisch-gesetzliche Rahmenbedingungen, die dies zulassen und fördern.

Die Frage, was der Einzelne und seine Familie als Lebensqualität empfinden, dürfte einen riesigen Korb von Antworten bringen, die auch von der jeweiligen Situation abhängen. Was der eine heute als inakzeptabel empfindet, bedeutet für andere schon Fortschritt und Gewinn an Lebensqualität.

Ein praktisches Beispiel: Der Erkrankte findet auch nach erfolgreich absolvierter Ausbildung oder Umschulung keinen Arbeitsplatz; eine Tätigkeit wäre wohl gut für ihn, aber seine Belastungsfähigkeit schwankt, das Arbeitsleben überfordert ihn im Grunde. Soll man eine Verrentung oder Grundsicherung anstreben? In einigen Fällen, die in unserer Angehörigengruppe vorgetragen wurden, war das für die Betroffenen eine gute Sache, weil es ein wenn auch bescheidenes, so doch sicheres eigenes Einkommen und das vorläufige Ende der frustrierenden Suche nach bezahlter Arbeit bedeutete. Wenn es ihnen (meist mit erheblicher praktischer und finanzieller Hilfe der Angehörigen) dann gelang, selbstständig zu wohnen, ihren Alltag zu organisieren und mit ihrer Umwelt klarzukommen, bedeutete das vor dem Hintergrund oft langer und dramatischer Leidensgeschichten einen Gewinn an Lebensqualität für alle Beteiligten, die sie zuvor kaum noch erhoffen konnten. In anderen Fällen dagegen sahen es die betroffenen Familien und der Kranke genau umgekehrt: der Bezug von Rente oder anderen Transfereinkommen, der Verzicht auf einen Platz im Arbeitsleben wurden als Selbstaufgabe, Diskriminierung, Schlag gegen das Selbstbewusstsein und jedenfalls als dramatische Minderung der Lebensqualität begriffen.

Auch wenn es also auf den Einzelfall ankommt, was von Menschen (mit oder ohne psychischer Beeinträchtigung) als Lebensqualität betrachtet wird, so bieten die bereits am Anfang genannten Kriterien doch Anhaltspunkte, von denen ich einige hier anführen möchte:

Abwesenheit von existenziellen Ängsten und Bedrohungen, Fähigkeit zu Freude und Trauer, Nähe und Distanz, möglichst selbstständig, aber nicht einsam leben, einen Platz in der Gemeinschaft finden, auch wenn es vielleicht "nur" eine Nische ist; ein Auskommen und eine Sinn gebende Tätigkeit haben, auch wenn es vielleicht "nur" eine Rente und eine ehrenamtliche Tätigkeit sind, in einer freundlichen, aber nicht aufdringlichen Umwelt leben, in der Nähe von Freunden und Verwandten, aber nicht unbedingt unter einem Dach mit ihnen, Hilfe bekommen, wenn, so lange und in der Form, wie sie benötigt wird.

Das alles zu erreichen ist ein Kunststück, ein Puzzle aus vielen Teilen, und im Grunde ist es erstaunlich, dass dieses Kunststück doch immer gelingt. Das größte Verdienst daran dürfen die Familien beanspruchen mit ihrem wirklich "multiprofessionellen" Hilfeangebot.

Wenn ein psychisch Kranker sagt, er sei zufrieden, obwohl von außen betrachtet und in den Augen der Familie seine Lebensumstände jämmerlich sind - was heißt das unter dem Gesichtspunkt der Lebensqualität? Wie muss man fragen, wen muss man fragen und wer beurteilt die Antworten? Keine einfache Sache - und auf jeden Fall keine, die man den Wissenschaftlern und Politikern alleine überlassen darf: Die Betroffenen und ihre Familien müssen gerade hier eingebunden werden.

Jutta Seifert, Jahrgang 1945

Vorsitzende des Vereins Angehörigengruppe Mittelhessen e.V. und stellv. Vorsitzende des Bundesverbands der Angehörigen psychisch Kranker - Familien-Selbsthilfe Psychiatrie Email: psy30@aol.com

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