Arzneimittelforschung 2011; 61(11): 663-665
DOI: 10.1055/s-0031-1300581
PMS-Symposium Innovative Therapies in Palliative Care
Editio Cantor Verlag Aulendorf (Germany)

Gastrointestinale Symptome

Gerhild Becker
1   Palliativstation der Abteilung Innere Medizin II, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
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Publication Date:
06 February 2012 (online)

Bei ca. 80% aller palliativmedizinischen Patienten treten gastrointestinale Symptome auf [1]. Ein häufiges Symptom bei palliativmedizinisch betreuten Patienten ist die Obstipation. Während etwa 10% der gesunden Bevölkerung an Obstipation leiden, wobei ältere Menschen und Frauen häufiger betroffen sind [2] [3], ist die Obstipation in der Palliativmedizin ein besonders häufiges Symptom, dessen Prävalenz in verschiedenen Untersuchungen je nach verwendeter Definition und untersuchter Patientenpopulation mit Werten zwischen 32 und 82% angegeben wird [4]. Ungefähr die Hälfte aller Patienten klagt bei Aufnahme auf Palliativstationen über Obstipation [5], wobei Patienten mit Tumorerkrankungen sowie mit renalen Erkrankungen besonders häufig betroffen sind [6]. Bei opioidpflichtigen Palliativpatienten steigt die Prävalenz der Obstipation bis auf knapp 90% [7] [8].

Unter Obstipation wird gewöhnlich eine harte und schmerzhafte Defäkation mit reduzierter Frequenz und/oder Menge verstanden. Es existiert jedoch bislang keine allgemein gültige und international anerkannte Definition des multifaktoriell bedingten Symptomkomplexes Obstipation. Die am häufigsten verwendete Definition sind die sog. Rom-Kriterien, die u. a. darauf basieren, dass zwar eine große interindividuelle Variabilität hinsichtlich der Stuhlgewohnheiten besteht, die in der westlichen Bevölkerung Stuhlfrequenzen zwischen dreimal täglich und dreimal wöchentlich umfassen kann [2], epidemiologische Studien jedoch zeigen, dass etwa 95% einer gesunden Population in der westlichen Welt mindestens dreimal die Woche Stuhlgang haben [9]. Die Rom-Kriterien als Kombination von messbaren Parametern und subjektiver Befindlichkeit des Patienten wurden allerdings für ansonsten gesunde Patienten mit sog. funktioneller Obstipation entwickelt und werden vor allem als Einschlusskriterium in wissenschaftlichen Studien eingesetzt. Die Chronic Constipation Task Force des American College of Gastroenterology weist zu Recht darauf hin, dass auch viele Patienten, die nicht alle in der Rom-Definition vorgegebenen Kriterien erfüllen, über das subjektive Gefühl von Verstopfung klagen [10]. In den klinischen Empfehlungen der European Consensus Group on Constipation in Palliative Care wird daher empfohlen, sowohl objektiv messbare Parameter, wie z. B. eine Stuhlfrequenz < 3/Woche, als auch das subjektive Empfinden des Patienten, wie z.B. das Beklagen von abdominellem Spannungsgefühl, Blähungen oder Flatulenz, zu berücksichtigen [11].

Die besonders hohe Prävalenz des Symptoms Obstipation bei palliativmedizinischen Patienten ist bedingt durch mehrere Faktoren. Hospitalisierte ältere Menschen haben eine dreifach höhere Wahrscheinlichkeit für Obstipation als nichthospitalisierte der gleichen Altersgruppe [12]. Neben krankheitsbedingter Immobilität und dem oft reduzierten Ernährungs- und Flüssigkeitsstatus trägt bei palliativmedizinischen Patienten vor allem die vielfach notwendige Schmerztherapie mit Opioiden, aber auch die Einnahme weiterer Medikamente zur häufigen Entwicklung einer Obstipation bei. Eine Auswahl prädisponierender Faktoren zeigt [Tab. 1].

Tabelle 1: Mögliche Ursachen einer Obstipation bei palliativmedizinischen Patienten (modifiziert nach [25]).

1. Organische Ursachen

• Tumorinfiltration im Beckenbereich

• Radiogene Fibrose

• Schmerzhafte Erkrankungen im Analbereich (Hämorrhoiden,

Analfissuren, perianale Abszesse)

2. Neurologische Ursachen

• ZNS-Befall (Hirntumore, spinale Kompression)

• Infiltration der Sakralnerven

• Erkrankungen des autonomen Nervensystems (z. B. Diabetes, Multiple Sklerose, Motorneuronenerkrankungen)

3. Metabolische Ursachen

• Dehydration

• Hyperkalziämie

• Hypokaliämie

• Hypothyreose

• Diabetes

4. Medikamente

• Opioide

• Antidepressiva

• Anticholinerge Substanzen (z. B. Buthylscopolamin, Phenotiazin)

• Antikonvulsiva

• Neuroleptika

• Antiemetika (5-HT3-Antagonisten)

• Antihypertensiva

• Anti-Parkinsonmittel

• Antitussiva

• Antazida

• Chemotherapeutika (Vincaalkaloide)

• Diuretika (→ Dehydration)

• Eisenpräparate

5. Sonstige Faktoren

• Immobilität

• Ballaststoffarme Ernährung

• Divertikulose

• Mangelnde Privatsphäre („Bettpfanne”)

• Depression

• Höheres Lebensalter

• Sedierung

Obwohl viele medikamentöse Therapien zur Behandlung des Symptoms Obstipation bei palliativmedizinischen Patienten seit langem klinisch etabliert sind, ist die studienbasierte Evidenz für deren Effizienz gering. Eine systematische Literaturrecherche in den Datenbanken Ovid Medline, PubMed, CINHAL, Central und Embase (letzte Suche am 31. 05. 2011) zeigte, dass in der Literatur 130 randomisierte kontrollierte Studien (RCT) zur Therapie des Symptoms Obstipation identifiziert werden konnten, in die jedoch größtenteils Patienten mit funktioneller Obstipation eingeschlossen wurden. Zur Therapie des Symptoms Obstipation bei palliativmedizinischen Patienten (als Einschlusskriterium wurde definiert, dass sich mindestens 75% der in der jeweiligen Studie eingeschlossenen Patienten in einer palliativen Situation befinden müssen) konnten lediglich 8 kontrollierte Studien identifiziert werden (Bader et al., Manuskript in Vorbereitung). Kontrollierte vergleichende Studien fanden sich für Senna vs. Lactulose [13], Senna vs. Misrakasneham (ayurvedische Kräuter-Milch-Öl-Mischung) [14], Senna und Lactulose vs. Codanthramer [15] sowie Senna vs. Senna in Kombination mit Docusat [16]. Sykes et al. untersuchten in einer Dosisfindungsstudie (placebokontrolliert über zwei Tage, anschließend offene Studie) den Effekt von oralem Naloxon als Zusatz zur täglichen Morphindosis auf die Dünndarmpassagezeit (gemessen mittels H2-Atemtest) sowie die Stuhlfrequenz bei 27 Tumorpatienten [17]. In einer unveröffentlichten Studie von Sykes et al. wurde die Wirksamkeit von Magnesiumhydroxid in Kombination mit flüssigem Paraffin im Vergleich zu Senna in Kombination mit Lactulose bei palliativmedizinischen Patienten untersucht [18]. Insgesamt ist die Aussagekraft der kontrollierten Studien im palliativmedizinischen Setting jedoch aufgrund des vielfach nicht ausreichend beschriebenen Randomisierungsprozesses, der unzureichenden Verblindung sowie der nicht ausreichend auf die hohen Ausfallraten angepassten Statistik nur als eingeschränkt zu bewerten. Randomisierte, placebokontrollierte, verblindete Studien im palliativmedizinischen Setting von hoher methodischer Qualität und Aussagekraft finden sich in der Literatur bislang lediglich für Methylnaltrexon zur Therapie der opiatinduzierten Obstipation [19] [20] [21] [22].

Methylnaltrexon (MNTX) wurde als erster peripher wirksamer µ-Rezeptorantagonist auch im Rahmen von drei randomisierten Studien an Patienten in palliativer Situation getestet [19] [20] [21] [22]. In den 2008 publizierten klinischen Empfehlungen der European Consensus Group on Constipation in Palliative Care [11] wird bereits auf MNTX als mögliche Therapieoption hingewiesen; da jedoch zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Empfehlung erst eine Studie mit palliativmedizinischen Patienten publiziert war, konnte keine weitergehende Bewertung vorgenommen werden. Eine Metaanalyse der Daten von 287 Patienten aus zweien dieser Studien, die im Rahmen eines aktuellen Cochrane Reviews durchgeführt wurde, räumt MNTX eine Odds Ratio von 6.95 (CI 3.83–2.61) hinsichtlich der Auslösung eines Stuhlgangs innerhalb von vier Stunden nach Applikation gegenüber Placebo ein [23]. Im Gegensatz zu Naloxon ist MNTX aufgrund seiner Polarität kaum liquorgängig und kann daher systemisch angewandt werden, ohne die vorwiegend zentral lokalisierte Schmerzhemmung zu beeinträchtigen oder Entzugssymptome auszulösen. Es wurden bislang jedoch keine prädiktiven Faktoren für Ansprechen oder Nichtansprechen der Therapie eruiert. Alle Patienten nahmen während der Studien ihre bisherigen, konventionellen Laxantientherapien ein, welche jedoch nicht im Detail erfasst wurden. Keine Studie testete die Anwendung von MNTX gegen eine Optimierung der konservativen Laxantientherapie. In den mit MNTX durchgeführten Studien waren die Nebenwirkungen gegenüber der Placebogabe nicht signifikant erhöht, die Patienten litten jedoch tendenziell verstärkt unter abdominellen Krämpfen. In den ersten 18 Monaten nach Verschreibung des Medikaments für 6900 Patienten seit dessen Zulassung im Juli 2008 für die opiatinduzierte Obstipation wurden in den USA sieben Fälle von Darmperforation mit MNTX in Verbindung gebracht [24]. Alle Patienten hatten Tumorbefall des Darmes. Deswegen ist die Gabe von MNTX bei Perforationsgefahr, z. B. durch Tumorinfiltration des Darms, Obstruktion, Divertikulitis oder Colitis, streng kontraindiziert. Auch unter entsprechend gefährdender Medikation wie nichtsteroidalen Antiphlogistika, Steroiden oder nach Bevacizumab ist die Anwendung nicht zu empfehlen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Therapie der Obstipation bei palliativmedizinischen Patienten überwiegend auf klinischer Erfahrung beruht und bislang wenig durch Studien gestützt ist. Aussagekräftige klinische Studien im Palliative Care Setting sind lediglich für neu zugelassene Medikamente wie MNTX zu finden. Aufgrund der bekannten Schwierigkeiten, klinische Studien mit palliativmedizinischen Patienten am Lebensende durchzuführen (inhomogene Patientengruppe, hohe Drop-Out-Raten, Gatekeeping durch betreuende Ärzte und Pflegekräfte u. a.), erscheint es sinnvoll, Palliativeinrichtungen vermehrt zur Durchführung multizentrischer Studien zu vernetzen, um die notwendigen Patientenzahlen für statistisch aussagekräftige Ergebnisse zu erreichen. Auf der Basis methodisch adäquat geplanter und nach den Grundsätzen der „Good Clinical Practice” durchgeführter klinischer Studien können sowohl klinisch etablierte wie auch neue Therapien evaluiert und darauf aufbauend Leitlinien auf Basis ausreichender Evidenz entwickelt werden.

 
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