Arzneimittelforschung 2011; 61(11): 662-663
DOI: 10.1055/s-0031-1300580
PMS-Symposium Innovative Therapies in Palliative Care
Editio Cantor Verlag Aulendorf (Germany)

Palliativmedizin bei Multipler Sklerose

Raymond Voltz
1   Zentrum für Palliativmedizin, Uniklinik Köln
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Publication Date:
06 February 2012 (online)

Palliativmedizin und Multiple Sklerose ist zunächst für Viele eine contraintuitive Kombination. Oft wird Palliativmedizin noch ausschließlich mit Krebserkrankungen assoziiert. Hier kann der Blick auf Patienten mit Multipler Sklerose (MS) ein paradigmatischer sein für eine eher chronisch verlaufende Nicht-Tumor-Erkrankung. Bevor jedoch die palliativmedizinischen Versorgungskonzepte, welche im Bereich onkologischer Patienten entstanden sind, auf Betroffene mit MS übertragen werden, sollten zunächst einmal folgende Fragen beantwortet sein:

  1. Wann ist eine MS „fortgeschritten”?

  2. Was sind bisher unerfüllte Bedürfnisse von Patienten und Angehörigen mit fortgeschrittener MS?

  3. Wie sieht ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Versorgung dieser Patientengruppe aus, und wo könnte dort spezialisierte Palliativmedizin hilfreich sein?

  4. Wie sieht eine mögliche konkrete Intervention aus und wie wirksam ist sie?

Bisher beschäftigen sich zwei Zentren weltweit mit dieser Frage. Dies ist einmal die Abteilung von Frau Prof. Irene Higginson vom King’s College in London, welche ein Forschungsprojekt zu diesem Thema von der British MS Society bewilligt bekommen hatte. Außerdem laufen am Zentrum für Palliativmedizin an der Uniklinik Köln entsprechende Projekte mit Unterstützung der Hertie-Stiftung, der Deutschen MS-Gesellschaft (DMSG) sowie der Jackstädt-Stiftung. An beiden Zentren sind bisher Forschungsdaten entstanden, welche beginnen, die oben genannten Fragen zu beantworten:

  1. Was ist eine fortgeschrittene MS? Hier verwendet die Londoner Arbeitsgruppe eine Kombination aus objektiven (EDSS 8,0 oder höher; EDSS: Expanded Disability Status Scale) und subjektiven Kriterien, nämlich dass der Neurologe palliativmedizinische Behandlung indiziert sieht. In der Kölner Arbeitsgruppe wird eine rein subjektive Einschätzung verwendet: Eine MS ist dann fortgeschritten, wenn sich der MS-Betroffene als schwer betroffen von MS bezeichnet. Die so sich selbst subjektiv einschätzenden Patienten zeigen im Mittel ein EDSS von 5,96 (Range 1–9,5, Median 6,0), sind im Vergleich zu den Patienten des MS-Registers etwa 10 Jahre älter und haben eine deutlich längere Erkrankungsdauer. Außerdem finden sich in der Gruppe der schwer betroffenen MS-Patienten deutlich mehr mit einer progredienten MS.

  2. Was sind die Bedürfnisse? Im Mittel hat diese Patientengruppe eine körperliche Symptombelastung von neun Symptomen, drei davon schwer ausgeprägt, drei mittel und drei leicht, was mit Patienten mit anderen Krankheiten wie Krebs durchaus vergleichbar ist. In der Kölner qualitativen Befragung ergab sich eine Vielzahl von Kategorien unerfüllter Bedürfnisse mit den vier Hauptkategorien: Unterstützung durch Angehörige, Versorgungsstrukturen, Aktivitäten des täglichen Lebens sowie Aufrechterhaltung einer biographischen Identität. Hier zeigte sich, dass die Sichtweise einer jeden Berufsgruppe sowie natürlich der Patienten und Angehörigen wesentlich ist, um ein umfassendes Bild der Bedürfniskategorien zu erhalten. So konzentrieren sich Ärzte hauptsächlich auf Gesundheitsstrukturen, Pflegende und Sozialarbeiter auf die Aktivitäten des täglichen Lebens. Professionelle erkennen jedoch auch Bedürfnisse bei Angehörigen, auf die Patienten wiederum weniger hinweisen. Außerdem gibt es ein großes Bedürfnis nach offener Kommunikation, einschließlich der über einen vorzeitigen Tod. Palliativmedizin wird aus Betroffenensicht sehr unterschiedlich gesehen, zum Teil als komplett irrelevant bis hin zu äußerst nützlich.

  3. Wie sieht ein Gesamtkonzept zur Verbesserung der Versorgung dieser Patientengruppe aus? Dieser Frage widmet sich ein derzeit laufendes Forschungsprojekt im Köln/Bonner Raum, wo dieses Gesamtkonzept, basierend auf den Daten der Bedürfnisse der Patienten, im Konsens mit den beteiligten Gruppierungen der Gesundheitsversorgung erarbeitet werden soll. Hierbei soll auch auf die spezielle Rolle möglicher palliativme-dizinsicher Maßnahmen eingegangen werden.

  4. Wie sieht eine konkrete Intervention aus und welchen Effekt hat sie? Im Raum Köln/Bonn wurde in Kooperation mit der DMSG eine spezielle Hotline für diese Patientengruppe eingerichtet, eine Evaluation dieses Angebots läuft derzeit. Eine erste kontrollierte Interventionsstudie aus London zeigt, dass eine palliativmedizinische Intervention in dieser Patientengruppe (gemeinsame Sprechstunde mit Palliativmedizin) in einer Phase-II-Studie eine signifikante Verbesserung der Symptome Übelkeit und Schmerz erbracht hat. Außerdem zeigte sich eine geringere Rate von stationären Aufenthalten mit einem dadurch erfolgten Kosteneinsparungseffekt. Weitere Interventionsstudien in diesem Bereich sind essentiell und werden sicher in den nächsten Jahren eine höhere Evidenz für die Interaktion von spezialisierten Palliativeinrichtungen und den bisherigen Versorgungsstrukturen für diese Patientengruppe erbringen.

Basierend auf den bisherigen klinischen Erfahrungen und den ersten Forschungsergebnissen hat der so genannte European Code of Good Practice zur Versorgung von MS-Patienten in Europa folgendes Statement herausgegeben: „Klinische Erfahrung und die Ergebnisse kürzlich publizierter Studien lassen uns zusammenfassend empfehlen, dass Patienten, welche von Multipler Sklerose schwer betroffen sind, in Europa Zugang zu einer palliativmedizinischen Diagnostik und, wo nötig, zu spezialisierten palliativmedizinischen Versorgungsstrukturen haben sollten”.