Arzneimittelforschung 2011; 61(11): 653-655
DOI: 10.1055/s-0031-1300576
PMS-Symposium Innovative Therapies in Palliative Care
Editio Cantor Verlag Aulendorf (Germany)

Evidence-based Spiritual Care: Gibt es das?

Traugott Roser
1   Professur für Spiritual Care, Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin, Klinikum Großhadern, Ludwig-Maximilians-Universität München
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06 February 2012 (online)

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in verschiedenen Dokumenten bestimmt, dass die Sorge für den kranken Menschen neben der physischen und psychosozialen Dimension auch die spirituelle Dimension umfasst. Dies macht eine Klärung notwendig, was mit „Spiritualität” gemeint ist, wie sich „Spiritual Care” beschreiben lässt, wer dafür zuständig ist und ob Spiritual Care auf Evidenz basiert.

Da sich in der Literatur bislang keine klar umrissene Definition für Spiritualität durchgesetzt hat, sondern eher von einer spirituellen Dimension oder einem Feld die Rede ist, besteht eine Spannung zwischen der Notwendigkeit einer präzisen wissenschaftlichen Erforschung und einer pragmatischen Vorgehensweise: Einerseits bedarf der Begriff Spiritualität einer differenzierten Betrachtung und Abgrenzung von anderen Konzepten wie Religion, Religiosität oder Sinnfindung, um ihn als autonomen Forschungsgegenstand zu fassen (Utsch und Klein 2011), andererseits kann in phänomenologischer und pragmatischer Absicht die „begriffliche Unscharfe” (Roser 2007) des Spiritualitätsbegriffs im Kontext des Gesundheitswesens und insbesondere in der Palliative Care als Ausgangspunkt für eine Subjekt-(i. e. Patienten-)zentrierte Spiritualität dienen. Auf diese Weise bleibt er für die jeweiligen religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen der Patienten anschlussfähig.

Entsprechend arbeiten Experten für Spiritual Care in Palliative Care mit vorläufigen Arbeitsdefinitionen. Die Task Force on Spiritual Care der European Association for Palliative Care hat sich vorläufig auf folgende Bestimmung geeinigt: „Spirituality is the dynamic dimension of human life that relates to the way persons (individual and community) experience, express and/or seek meaning, purpose and transcendence, and the way they connect to the moment, to self, to others, to nature, to the significant and/or the sacred. “ (Nolan et al. 2012). Dies inkludiert sowohl Aspekte der existenziellen Herausforderung durch eine schwere Erkrankung, Wert- und Weltanschauungsfragen als auch religiöse und glaubensbezogene Aspekte.

Vergleichbar der Unterscheidung zwischen einer ge-sundheitsbezogenen, vermeintlich objektiv messbaren Lebensqualität und einer subjektiven Lebensqualität von Patienten mit einer schweren Erkrankung und ihrer Bedeutung für Behandlung und Behandlungsentscheidungen setzt Spiritual Care damit bei der individuellen spirituellen Situation eines kranken Menschen, seinen spirituellen Nöten und Bedürfnissen, aber auch Ressourcen an. Sie geht aber vom Zusammenhang von spirituellem Befinden und Gesundheitserleben aus. In einer Metastudie von 850 Studien über den Zusammenhang von spirituellem Befinden und mentaler Gesundheit und noch einmal 350 Studien zur Beziehung zwischen Religiosität und physischer Gesundheit hat Zachary Simmons in einer Mehrheit der Untersuchungen einen positiven Zusammenhang von Religiosität sowohl zu mentaler als auch physischer Gesundheit herausgefunden (Simmons 2005). Stiefel et al. haben 2008 in ihren Untersuchungen zu Lebenssinn bei Krebspatienten zeigen können, dass bei Menschen mit einer schweren Erkrankung zu den wichtigsten Faktoren für die Erfahrung individuellen Lebenssinns die Beziehung zu anderen, insbesondere Partnerschaft und Familie, außerdem Werte wie Altruismus und Spiritualität sowie Naturerfahrung gehören.

Trotz der definitorischen Defizite wurden zahlreiche Messinstrumente entwickelt, die spirituelle Bedürfnisse und Nöte, aber auch Ressourcen von Patienten und ihren Angehörigen erheben und diese zum Ausgangspunkt spiritueller Interventionen machen. Spirituelles Assessment wird neben Forschungszwecken vor allem für klinische Zwecke durchgeführt; empfohlen wird – insbesondere nach einer Consensus Conference in Kalifornien im Jahr 2009 – ein halboffenes und eher allgemein gehaltenes Interview zur Erhebung spiritueller Bedürfnisse, zu dessen Durchführung es lediglich eines kurzen Trainings bedarf (Puchalski 2009). Als ein Instrument wurde für den deutschen Sprachraum SPIR, ein halbstrukturiertes Interview, entwickelt (Frick et al. 2005).

Das Problem dieser und ähnlicher Untersuchungen ist, dass ein Assessment zwar die spirituellen Bedürfnisse aufzeigt, aber damit noch nicht sichergestellt ist, wie mit diesen Bedürfnissen in der weiteren Betreuung und Behandlung umzugehen ist. Spiritual Care geht in die Zuführung oder Überweisung eines Patienten zu seelsorglicher Begleitung nicht auf, sondern kann sich auf Betreuung durch ganz andere Berufs- oder Personengruppen beziehen (Hanson et al. 2008).

Dass diese Fragen auch für ärztliche und pflegerische Betreuung Bedeutung haben, belegt die Zunahme an medizinischen und pflegewissenschaftlichen Untersuchungen zu Spiritualität und Medizin in den vergangenen Jahren (Sinclair et al. 2006, Holloway et al. 2011). Die Untersuchungen widmen sich auch der Operationa-lisierbarkeit im klinischen Alltag und konkreten Effekten religiöser Einstellungen und Praktiken für das Befinden von Patienten. Einige Untersuchungen widmen sich der Bedeutung von Spiritualität der Behandelnden.

Es hat sich ein Zusammenhang zwischen Spiritualität von Patienten und Therapieentscheidungen gezeigt; religiöse und spirituelle Einstellungen korrelieren mit Einstellungen gegenüber Technologie und Überleben; Spiritualität und Glaubenseinstellungen werden zudem für das Coping mit ALS (amyotrophe Lateralsklerose) in Anspruch genommen (Murphy et al. 2000: ALS-Patienten). Phelps et al. (2009) konnte eine Korrelation zwischen religiösem Coping und Therapieentscheidungen in den letzten Lebenswochen nachweisen: Es zeigte sich eine hohe positive Korrelation zwischen positivem religiösem Coping and künstlicher Beatmung sowie intensiver lebensverlängernden Maßnahmen am Lebensende.

Spiritual Care ist eine multiprofessionelle Aufgabe (Puchalski et al. 2006, Hanson et al. 2008), die von einem interdisziplinären Team gemeinsam und mit differenzierten Zuständigkeiten geleistet wird. Inhaltlich umfasst Spiritual Care die Hilfe beim Ordnen von Beziehungen zu anderen Menschen und zu Gott, das Verstehen der eigenen Lebensgeschichte, von Sinn und Sinnlosigkeit, Angst und Selbstwert, das Coping, Praktiken wie Gebet, Liturgie und Glaubensgespräch und zusätzliche Aktivitäten wie die Fürbitte anderer und Trost (Hanson et al. 2008). Es ist ersichtlich, dass die Aufgaben und Tätigkeiten sich auf unterschiedliche Berufsgruppen verteilen lassen, abhängig jeweils von den Wünschen und Neigungen des Patienten. Es zeigt sich allerdings auch, dass die Integration von Spiritual Care von einer Reihe von Faktoren abhängt, die auch organisationaler Art sind (NHS Scotland 2009).

Sulmasy hat deshalb einen biopsychosozial-spirituel-len Ansatz von Medizin entwickelt, der den Ort und die Funktion einer spirituellen Anamnese im Rahmen des gesamten Betreuungsplans verdeutlicht. Dieser Ansatz wurde vom US-amerikanischen multiprofessionellen National Consensus Project rezipiert und in ein Modell für die Planung von Spiritual-Care-Interventionen umgesetzt (Sulmasy 2002).

Die Kompetenzen für Spiritual Care werden wie folgt bestimmt: Die Fähigkeit zu aktivem und mitfühlendem Hören, Beratungs- und Deutungsarbeit und spirituelle Praktiken und Riten (Holloway et al. 2011, Hagen et al. 2011). Diese Fähigkeiten können bis zu einem gewissen Grad auch nachhaltiger Bestandteil der Ausbildung zu Gesundheitsberufen sein. Spezielles Training in Spiritual Care bewirkt über die Verbesserung von Einstellung, Wissen und Fähigkeiten (Wasner et al. 2008) hinaus auch eine Steigerung der Arbeitszufriedenheit und eine Verringerung von arbeitsbezogenem Stress (Wasner 2005).

 
  • Literatur

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