Arzneimittelforschung 2011; 61(11): 635-637
DOI: 10.1055/s-0031-1300566
PMS-Symposium Innovative Therapies in Palliative Care
Editio Cantor Verlag Aulendorf (Germany)

I. Grundlagen der Palliativmedizin

Grundlagen der modernen Palliativmedizin: Das Konzept der Therapiezieländerung
H. Christof Müller-Busch
1   Universität Witten/Herdecke und Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe, Berlin
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Publication Date:
06 February 2012 (online)

Ärztliches Handeln in sterbenahen Situationen beruht auf ethischen Grundsätzen und moralischen Verpflichtungen, die im Spannungsfeld von Sorge für den kranken Menschen und Selbstbestimmung des Betroffenen die Bereitschaft beinhaltet, die veränderten Bedingungen, unter denen Sterben und Tod durch die Möglichkeiten der modernen Medizin stattfindet, zu berücksichtigen und Verantwortung mit zu übernehmen.

Leitziel von Palliative Care bzw. der Palliativmedizin ist die würdige Begleitung der letzten Lebensphase und des Sterbens bei schwerstkranken Menschen. Vor allem die Möglichkeiten der modernen Schmerztherapie, die in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, haben dazu beigetragen, dass Palliative Care zunehmend Anerkennung und Bedeutung erlangte. Leidenslinderung, aber auch Prävention des Leidens mit den Möglichkeiten der modernen Medizin bedeuten nicht nur optimale Symptomlinderung und Verbesserung der Lebenssituation des Sterbenskranken, sondern es geht in der Palliativbetreuung zunehmend auch darum, Orientierung zu finden und die Begleitung des schwerstkranken Menschen mit einem Grundverständnis zu verbinden, dass der Tod auch zugelassen werden kann und darf.

Zur modernen Palliativmedizin gehört – nach der revidierten Definition der WHO von 2002 – nicht nur die Konzentration auf die Linderung körperlicher Symptome bei unheilbaren Krebserkrankungen, sondern ein bei allen fortschreitenden und fortgeschrittenen Erkrankungen notwendiges, die individuelle Lebenssituation des Betroffenen und seiner Angehörigen berücksichtigendes Verständnis des Leidens sowie Zeit und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen des Krankseins und Sterbens.

Auch wenn der Sterbeprozess selbst sich letztlich der Steuerbarkeit entzieht und seinen eigenen Regeln folgt, sind es zunehmend Entscheidungen zum Einsatz, der Begrenzung oder dem Verzicht medizinischer Handlungsmöglichkeiten in der letzten Lebensphase eines Menschen, die sowohl den Zeitpunkt des Todes als auch Ort und Art des Sterbens wesentlich mitbestimmen. Im Vordergrund des Sterbens steht nicht mehr wie früher nur das Nachlassen elementarer Lebens- und Körperfunktionen, sondern die vor dem Eintritt des biologischen Organversagens liegende Lebensphase wird durch Einflussfaktoren geprägt, für die sowohl individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen wie auch gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen von Bedeutung sind. Besonders bei alten Menschen ist der Rückzug mit Schwäche, Bettlägerigkeit, Interesseverlust, weniger Essen und Trinken und wissend ahnendes Abschiednehmen nicht immer nur Ausdruck ihrer körperlichen Bedingungen. Dies bedeutet auch zu berücksichtigen, dass für die Lebenswelten und das Verhalten von vielen alten Menschen auch psychische und soziale Gründe eine Rolle spielen, die dazu geführt haben, neben dem biologischen ein soziales und ein psychisches Sterben zu unterscheiden, das Entscheidungen am Lebensende mitbestimmt.

Nicht alles, was in der Medizin getan werden kann, muss auch getan werden, und die physiologische Begründung der Indikation für eine medizinische Maßnahme ist schon lange keine ausreichende Begründung mehr dafür, dass diese auch durchgeführt werden muss. In diesem Zusammenhang gewinnt Kommunikation in fortschreitenden und fortgeschrittenen Erkrankungssituationen eine zunehmende Bedeutung. Die Entscheidung zum Einsatz oder zum Verzicht von potenziell lebensverlängernden Maßnahmen in der Medizin, zum Verhalten in Notsituationen, kann nicht unabhängig von der Frage gesehen werden, was solche Maßnahmen für den Betroffenen, seine Lebenssituation und sein soziales Umfeld bedeuten. Deswegen ist im Dialog der Beteiligten Kommunikation über die Aussichten auf Erfolg zum Nutzen des Betroffenen ebenso von Bedeutung wie die Information zur Prognose, die trotz aller Unsicherheiten der Vorhersage als wichtigste Grundlage für eine gemeinsame Entscheidungsfindung in Grenzsituationen angesehen werden kann.

Ein wesentlicher Grund für die Entwicklung palliativer Konzepte für schwerstkranke und sterbende Patienten war die Tatsache, dass das Thema Sterben und Tod sowie Leidenslinderung am Lebensende in der modernen Medizin nahezu ausgeklammert wurden, nachdem lange Zeit die unbeabsichtigten Nebenfolgen des Fortschritts mit den Möglichkeiten, Krankheiten zu behadeln und Leben zu verlängern, nämlich Schmerzen, Hilfsbedürftigkeit, existentielle Not und Pflege des sterbenskranken Menschen, nicht ausreichend beachtet wurden.

Behandlungsbegrenzung und die Änderung der Behandlungsziels sind wichtige Bestandteile des ärztlichen Handelns. Es gibt aber immer noch keinen klaren, rechtlich ausformulierten und in die Praxis umsetzbaren Rahmen für dieses Handeln – auch wenn in den letzten Jahren hierzu viele Empfehlungen gegeben wurden, u. a. durch die gesetzlichen Regelungen zu Patientenverfügungen seit 2009 und die Grundsätze der Bundesärztekammer. So besteht in Deutschland zwar ein grundsätzlicher Konsens über die Zulässigkeit von Behandlungsbegrenzung und zum Therapieverzicht in sterbenahen Situationen, d. h. den Verzicht auf Maßnahmen, die dazu beitragen, die Sterbezeit künstlich zu verlängern. Es fehlen aber konkrete Kriterien, wann solche Situationen eingetreten sind, welche Voraussetzungen vorhanden sein müssen.

Immer noch gibt es bei vielen Ärzten eine rechtliche Verunsicherung zur Zulässigkeit einer Behandlungsbegrenzung und Änderung des Behandlungsziels bei infauster Prognose, obwohl hierzu in den Grundsätzen der Bundesärztekammer schon 2004 eindeutig Stellung bezogen wurde. Das gilt besonders für solche Situationen, in denen die Selbstbestimmungsfähigkeit des Kranken eingeschränkt oder nicht vorhanden ist, und das ist in Todesnähe eigentlich immer der Fall. Die Übernahme der moralischen Verantwortung für Entscheidungen zur Behandlungsbegrenzung ist eine ärztliche Aufgabe, die notwendig ist, aber durchaus eine emotionale Belastung sein kann.

Dies trifft besonders zu, wenn es sich um Entscheidungen handelt, die mit dem Ziel getroffen werden, dass früher begonnene lebensverlängernde Maßnahmen nicht mehr fortgesetzt werden sollen, um das Sterben zuzulassen. Dabei muss der Grundsatz gelten, dass Verzichtsentscheidungen immer unter Berücksichtigung des Willens und im Respekt mit dem Willen des Betroffenen getroffen werden und nicht aus anderen Erwägungen. Sich im Falle der Irreversibilität einer Erkrankung im Terminal- oder Finalstadium mit dem antizipierten Willen auseinanderzusetzen, den Betroffenen mit seinen individuellen und spezifischen Wertvorstellungen zu würdigen und im Dialog mit ihm, den Angehörigen, Vorsorgebevollmächtigten oder Betreuern Orientierungen und Konsens für verantwortbare, d.h. vor allem auch transparente Entscheidungen zu finden, ist ein Grundelement einer humanen Medizin und Sterbebegleitung, zu der viele Ärzte weder ausreichend ausgebildet noch fähig sind.

Die Entscheidung, medizinische Maßnahmen im Einzelfall anzubieten, durchzuführen, zu begrenzen oder zu unterlassen, verlangt die Berücksichtigung von mindestens fünf Aspekten, die in ihrer Relation zueinander sorgfältig gewichtet und miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen. Dies gilt in besonderem Maße für Menschen mit schwerster zerebraler Schädigung und darauf beruhender eingeschränkter oder fehlender Entscheidungsfähigkeit:

  1. Medizinische Indikation (prognostischer Nutzen einer diagnostischen und/oder therapeutischen Maßnahme – individuelle Evidenz, empirische und physiologische Begründung, auch im Hinblick auf Lebensqualität und Lebenszeit)

  2. Die Belastung durch medizinische Maßnahmen und die Belastbarkeit des Betroffenen

  3. Die Lebenssituation, das Umfeld des Betroffen, seine biographische Entwicklung, soziale Zusammenhänge, Verwirklichungsmöglichkeiten, Alter

  4. Der explizite Wille des Betroffenen und bei nicht einwilligungsfähigen Patienten der mutmaßliche oder vorab verfügte Wille und die Entscheidung des gesetzlichen oder bevollmächtigten Vertreters

  5. Die Wertvorstellungen des Betroffenen

Die komplexen Entscheidungssituationen am Ende des Lebens können nur zum Teil durch rechtliche Rahmenbedingungen reguliert werden. Sie stellen eine Herausforderung dar, indem neben Dialogbereitschaft vor allem Verstehen und Transparenz gefordert werden, um im Rahmen ethischer Prinzipien den besten Weg zu finden. In der Auseinandersetzung mit dem Willen und Wertesystem des individuell Betroffenen und der Situation, in der er sich befindet, kann die medizinische Indikation zur Behandlungsbegrenzung in einer dialogischen Beziehung relativiert werden und in der Berücksichtigung von Wille und Selbstbestimmung eine individuelle Dimension bekommen. Eine solche Herangehensweise erfordert eine Haltung, die sich bei der Diagnosestellung und Indikationsbestimmung nicht nur von Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten sowie medizinischem Krankheitswissen leiten lässt, sondern auch von einer an der Biographie des anderen sich orientierenden Menschenkunde und einem sensiblen und partnerschaftlichen Verstehen des erkrankten Menschen.

Unter diesen Aspekten ist die Frage, wann „palliativ” beginnt, schwierig zu beantworten. Es können die letzten Stunden, Tage, Wochen und Monate, aber auch Jahre sein.

Palliative Ansätze erfordern eine personale, am bio-psycho-sozialen Modell orientierte Herangehensweise, die den kranken Menschen mit seinen biographischen Besonderheiten, gesunden Potentialen, seinem Willen und seinen Werten sowie in tragfähigen sozialen Bezügen in den Mittelpunkt stellt. Für Patienten mit fortgeschrittenen Erkrankungen ist dieser Ansatz besonders wichtig. Aber es geht nicht nur um Behandlung des Leidens, sondern auch um Prävention, Kommunikation und ethische Orientierung. Gerade unter dem Aspekt der Prävention ist es wichtig, dass palliative Aspekte nicht erst dann erwogen werden, „wenn nichts mehr getan werden kann”, sondern sie sollten kurative Behandlungsstrategien besonders auch in der Onkologie früh begleiten und ergänzen.

Zu den Kernelementen der Palliativmedizin gehören effektive Kommunikation, reflektiertes Entscheiden und Transparenz. Das bedeutet, dass wir uns bemühen, im Dialog immer dem Willen des Patienten auf der Spur zu sein, egal, ob es um Symptombehandlung, Therapiewünsche am Lebensende, die Interpretation von Patientenverfügungen, den Umgang mit Sterbewünschen, die Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen oder um Änderungen des Behandlungsziels geht. Medizinische Indikation bestätigt sich im Dialog und verwirklicht sich in der Palliatiwersorgung zuletzt in der Begleitung des sterbenden Menschen.

 
  • Literatur

  • 1 Borasio GD, Hessler HJ, Wiesing U. Patientenverfügungsgesetz: Umsetzung in der klinischen Praxis. Dtsch Ärztebl. 2009; 106 (40) :A-1952/B-1675/C-1643.
  • 2 Grübler B. Therapiebegrenzung bei infauster Prognose: Wann soll das Leben zu Ende gehen?. Dtsch Ärztebl. 2011; 108 (26) A1473-A1476
  • 3 Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Dtsch Ärztebl. 2011; 108 (7) A-346/B-278/C-278.
  • 4 Hoppe JD, Wiesing U. Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis. Dtsch Ärztebl. 2010; 107 (18) A877-A882
  • 5 Müller-Busch HC. Selbstbestimmung im Dialog. Respektierung und Förderung von Autonomie aus palliativmedizinischer Sicht. Berlin: Heinrich Böll Gesellschaft; 2008. S 10-19
  • 6 Müller-Busch HC. Definitionen und Ziele in der Palliativmedizin. Der Internist. 2011; 52 (1) 7-14