Psychiatr Prax 2010; 37(8): 408-409
DOI: 10.1055/s-0030-1268363
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Wie sich die Intelligenz ihrer – Abschaffung durch Thilo Sarrazin widersetzt – Zum Begriff der Erblichkeit

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Publication Date:
05 November 2010 (online)

 

So alt wie die Genetik ist auch die Debatte um die Erblichkeit der Intelligenz, die durch Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" [1] wieder neu entbrannt ist. Sir Francis Galton, ein Cousin von Charles Darwin, veröffentlichte 1865, inspiriert durch das Werk seines Cousins "Die Entstehung der Arten", seine eigenen Untersuchungen über die Vererbung geistiger Fähigkeiten unter dem Titel "Genie und Vererbung" [2]. Im Vorwort zur ersten Auflage schreibt Galton, dass er überrascht war, "wie häufig Befähigung den Weg der Vererbung zu gehen schien" [2]. Er ging "kursorisch die Verwandten von etwa 400 berühmten Männern aus allen Perioden der (englischen) Geschichte durch", "nämlich diejenigen der Richter Englands von 1660–1868, der Politiker aus der Zeit Georgs III. und der Premierminister der letzten 100 Jahre, um auf diese Weise einen allgemeinen Überblick über die Gesetze der Vererbung der Anlagen zu erhalten" [2]. Er fand, dass diese (ausschließlich) Männer mehr Verwandte hatten, die ebenfalls "bedeutend" (im englischen Orginal eminent) waren, als es durch Zufall zu erwarten gewesen wäre. Daraus schloss Galton: "die Resultate dieser Untersuchung innerhalb der Grenzen, die die Untersuchung forderte, genügten meiner Ansicht nach vollständig zur Bestätigung der Theorie, dass Anlagen vererbbar sind" [2]. Thilo Sarrazin schreibt in seinem Buch [1]: "Der aktuelle Forschungsstand ist also der, dass jene, die die Erblichkeit von Intelligenz besonders betonen, deren Anteil mit 60–80% ansetzen, während jene, die besonders auf Umwelteinflüsse abstellen, auf einen Erbanteil von 40–60% kommen. Seriöse Zweifel an diesem Forschungsstand gibt es nicht." Auf diesen Daten basierend zieht Thilo Sarrazin seine fraglichen Schlüsse über einen Rückgang des allgemeinen Intelligenzniveaus im Rahmen der Änderung der Bevölkerungszusammensetzung in Deutschland.

Aber was heißt eigentlich erblich? Die Erblichkeit eines Merkmals, z.B. der Körpergröße, der Intelligenz oder einer psychischen Erkrankung wie der Schizophrenie, ist der Anteil der genetischen Variabilität, genauer gesagt der Varianz, an der Gesamtvarianz des untersuchten Merkmals. Die Gesamtvarianz setzt sich zusammen aus der genetischen Varianz und der Umweltvarianz. Die Umweltvarianz wiederum besteht aus Faktoren, die Teilgruppen von Menschen (Eltern/Kinder, Geschwister) teilen, wie z.B. die familiäre Umgebung (shared environment) bzw. nicht gemeinsam haben (non-shared environment). Für nahezu jedes Persönlichkeitsmerkmal bis hin zu psychiatrischen Störungen gibt es Angaben zur Erblichkeit, angefangen bei Neurotizismus (Heritabilität 20–40%) bis hin zur Schizophrenie (Heritabilität ca. 80%). Die Erblichkeit der Intelligenz liegt bei ca. 50%. Was bedeuten 50% Erblichkeit der Intelligenz? Erblichkeit sagt etwas darüber aus, warum sich Menschen innerhalb einer definierten Gruppe aufgrund genetischer Variabilität voneinander unterscheiden. Die Unterschiede der Intelligenz innerhalb einer untersuchten Gruppe beruhen bei einer Erblichkeit von ca. 50% entsprechend zur Hälfte auf genetischen Unterschieden innerhalb der DNA-Sequenz zwischen Menschen und zum anderen Teil auf Umweltvariationen.

Eine Erblichkeit von 50% bedeutet nicht, dass ca. die Hälfte der Ursachen, die die Intelligenz ausmachen, vererbt werden und die andere Hälfte durch Umweltfaktoren bedingt ist. Es bedeutet auch nicht, dass bei einer einzelnen Person 50% der Intelligenz genetisch bedingt sind. Heritabilität (gr. Abstammung) bedeutet auch wenig, ohne zu wissen, auf was für eine Bevölkerungsgruppe sich die Angaben beziehen, denn Heritabilität ist eine populationsspezifische Angabe, mit Gültigkeit für eine zeitlich, kulturell und räumlich definierte Bevölkerungsgruppe, nicht für ein einzelnes Individuum. Erblichkeit ist, auch wenn es zunächst paradox erscheint, keine absolute Größe, keine Naturkonstante, sondern abhängig von den Umwelteinflüssen, unter denen die Menschen leben, auf die sich die Erblichkeit bezieht. Erblichkeit ist also eine in mehrerer Hinsicht relative Größe. Ändern sich die Umweltbedingungen, ändert sich die Erblichkeit eines Merkmals. Zum Beispiel ist die Erblichkeit des Rauchens von Frauen in den letzten Jahren größer geworden. Grund dafür ist, dass der Zugang zum Rauchen kulturell bedingt einfacher geworden ist und entsprechend mehr Frauen rauchen als früher [3]. Der Wegfall restriktiver Umweltfaktoren führt zu einer stärkeren Exposition, die wiederum die genetische Disposition für Nikotinabhängigkeit aktiviert. Die Erblichkeit als relatives Maß von genetischer Varianz zu Gesamtvarianz eines Merkmals steigt, obwohl sich an der genetischen Struktur nichts geändert hat. Wenn man die Intelligenz in einer Gesellschaft mit sehr großen Unterschieden in den Zugangsmöglichkeiten zu schulischer Bildung messen würde, käme man auf eine geringere Erblichkeit der Intelligenz, da die Umweltvarianz (der Zugang zum Bildungssystem) größer ist. Würde es gelingen, die Umweltbedingungen für alle Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe, z.B. durch ein einheitliches Bildungssystem und einen einheitlichen Zugang zu diesem Bildungssystem, gleich zu gestalten, würde sich die Erblichkeit der Intelligenz dagegen sogar vergrößern. Obwohl also mit dem Begriff der Erblichkeit Eigenschaften wie z.B. Unveränderlichkeit, Schicksalhaftigkeit, Unbeeinflussbarkeit assoziiert werden, sagt Erblichkeit nichts über die Möglichkeiten aus, Merkmale wie z.B. die Intelligenz, aber auch psychische Krankheiten, zu beeinflussen, zu behandeln, zu modifizieren.

Eng verknüpft mit den Überlegungen Galtons zur Erblichkeit geistiger Fähigkeiten innerhalb von Familien waren seine Überlegungen, diese Ergebnisse auf ganze Bevölkerungsgruppen zu übertragen und ihnen bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben. Galton legte damit die Grundlage für die Eugenik, einen Begriff, den er prägte. So schreibt Galton: "Die Möglichkeit der rassischen Verbesserung einer Nation hängt von deren Fähigkeit ab, die Produktivität des besten Erbgutes zu erhöhen" [4]. Sarrazin macht sich diese 100 Jahre alte Theorie nahezu unverändert zu eigen: "Bei höherer relativer Fruchtbarkeit der weniger Intelligenten sinkt die durchschnittliche Intelligenz der Grundgesamtheit" [1]; nur dass er sich nicht auf "Europäer" versus "Wilde" sondern auf "bildungsnahe" (z.B. Akademiker/-innen) versus "bildungsferne" (z.B. Migranten) Bevölkerungsgruppen bezieht. Doch auch wenn diese Argumentation auf den ersten Blick plausibel erscheint, ist sie nicht haltbar. Sarrazin argumentiert, dass unterschiedliche kognitive Leistungsfähigkeit in verschiedenen Bevölkerungsgruppen bei einer gegebenen Heritabilität dieser Eigenschaften entsprechend auch genetischen Unterschieden zuzuschreiben ist. Über die Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen macht die Erblichkeit aber keine Aussagen. Heritabilität ließe sich nicht zwischen verschiedenen Gruppen vergleichen oder gar übertragen. Fände man in verschieden Gruppen, z.B. "bildungsnahen" und "bildungsfernen", unterschiedliche Prozentangaben zur Heritabilität, ließe auch das nicht darauf schließen, dass die eine Gruppe genetisch bedingt mehr oder weniger "bildungs nah" oder "bildungsfern" wäre. Auch wenn man sämtliche Bewohner Deutschlands hypothetisch als eine Gruppe auffassen und analysieren würde, bedeutet eine unterschiedliche "Bildungsnähe" bzw. "Bildungsferne", die man finden würde nicht, dass diese Unterschiede genetisch bedingt sind.

Zunächst einmal sind die genetischen Varianten, die einen Einfluss auf die Intelligenz haben, nicht bekannt. Es gibt zwar eine zunehmende Anzahl von Genen, die für genetische Formen der geistigen Behinderung verantwortlich sind [5]; welche genetischen Varianten jedoch dafür verantwortlich sind, dass sich Menschen mit einem Intelligenzquotienten innerhalb einer (durch das Testverfahren) definierten Norm hinsichtlich ihrer Intelligenz unterscheiden, ist unbekannt. Es ist anzunehmen, dass eine Vielzahl von eher häufigen genetischen Varianten, jede mit einem mehr oder minder geringen Einfluss, die Variabilität der Intelligenz beeinflussen. Keine genetische Variante wird alleine ausreichend sein, um die Variabilität eines geistigen Merkmals wie z.B. der Intelligenz zu erklären. Genetische Varianten, die mit der Intelligenz assoziiert sind (obwohl wir sie noch nicht kennen) werden bei Menschen innerhalb des gesamten Spektrums der Normalverteilung der Intelligenz vorkommen, allerdings mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit. Es wird also viele Menschen geben, die die gleichen genetischen Varianten tragen, obwohl sie unterschiedliche IQ-Werte haben. Es gibt somit genetische Unterschiede innerhalb einer untersuchten Bevölkerungsgruppe, die mit dazu beitragen, dass Menschen über ein mehr oder weniger ausgeprägtes kognitives Potenzial verfügen. Das darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen grundsätzliche genetische Unterschiede vorliegen, die mit besserer oder schlechterer kognitiver Leistungsfähigkeit einhergehen. Selbst die zukünftig zu erwartende Kenntnis genetischer Varianten, die mit der Variabilität der Intelligenz innerhalb einer bestimmten Gruppe assoziiert sind, wird nur sehr begrenzte Rückschlüsse aufgrund eines Genotyps innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe auf bestimmte Eigenschaften ermöglichen. Statistisch ausgedrückt bedeutet das, dass eine genetische Unterscheidung zwischen verschiedenen Gruppen aufgrund der größeren Varianz innerhalb der Gruppe als zwischen den Gruppen nicht sinnvoll möglich sein wird. Weiterhin ist davon auszugehen, dass gerade die von Sarrazin angeführten Unterschiede nichtgenetischen Faktoren zuzuschreiben sind! Gelegentlich lassen sich diese nicht genetischen ursächlichen Faktoren aufdecken, etwa eine extrem vermehrte Bleibelastung des Trinkwassers. Auch kulturell bedingte Erfahrungsunterschiede sind zu berücksichtigen. In Industrieländern lernen Kinder sehr früh abstraktes Denken und Umgang mit simplen geometrischen Formen, etwa durch didaktisches Spielzeug. Die üblichen Intelligenztests fragen genau diese Fähigkeiten ab. Kinder in agrarisch geprägten Gesellschaften dagegen können viel komplexere Differenzierungen z.B. zwischen Getreidesorten vornehmen, nur hilft ihnen diese Fähigkeit wenig bei den üblicherweise angewendeten Testverfahren.

Zusammengefasst spricht der aktuelle Kenntnisstand nicht dafür, dass bislang noch unbekannte mit guter oder weniger guter kognitiver Leistungsfähigkeit assoziierte Genvarianten in Subgruppen der Bevölkerung, wie Sarrazin sie definiert, unterschiedlich häufig sind. Die zahlreichen Fälle gelungener Integration und sozialen Aufstiegs liefern Beispiele dafür. Die Aktivierung eines genetisch gegebenen Potenzials wird allerdings weiterhin in manchen Gruppen durch Umweltbedingungen (z.B. bildungsferne patriarchalische Einstellungen) erschwert werden. Das Beispiel der Schizophrenie zeigt, dass die Bedeutung gleicher genetischer Faktoren für die Ausprägung der Erkrankung u.a. von peristatischen Faktoren wie Cannabiskonsum, Migration, Stress, Traumatisierung abhängt [6], die wiederum in den verschiedenen Bevölkerungsschichten ungleichmäßig verteilt sind.

Thilo Sarrazin unterliegt in seinen Äu ßerungen den gleichen Irrtümern wie Sir Francis Galton. Nur wusste Galton es noch nicht besser. Herrnstein und Murray haben diese eugenisch geprägten Thesen in die Rassismusdebatte in den USA eingebracht [7]. Herr Sarrazin bezieht sich extensiv auf dieses Buch, ohne die kritischen Debatten hierzu zu rezipieren. Er spricht nicht aus, was andere sich nicht trauen zu sagen. Er hat einfach über 100 Jahre genetische Wissenschaften und Diskurs verschlafen.

Hans Knoblauch, Wangen im Allgäu

Email: hans.knoblauch@zfp-zentrum.de

Andreas Busjahn, Berlin

Email: busjahn@healthtwist.de

Literatur

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