Psychiatr Prax 2010; 37(6): 310-311
DOI: 10.1055/s-0030-1265791
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Beziehungsstörungen im Postpartum

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Publication Date:
01 September 2010 (online)

 

Die gemeinsame Behandlung der postpartal psychisch erkrankten Mutter mit ihrem (beziehungsgestörten) Säugling im psychiatrischen Krankenhaus: Eine seltene, weil nicht finanzierte primärpräventive Maßnahme in der Psychiatrie

Die Inzidenz postpartaler psychischer Störungen ist hoch: In der "Transcultural study of postnatal depression" [1] ergibt sich im Mittel eine Prävalenz von 18,3% depressiver Störungen ca. 6 Monate postpartal. Depressionen, die in der Postpartalzeit auftreten, nehmen unter dem Aspekt der Primärprävention eine Sonderstellung ein, da die mütterliche Psychopathologie den Säugling in einer hochsensiblen Phase der kindlichen Entwicklung trifft. Langfristige emotionale und kognitive Entwicklungsstörungen beim Kind können die Folge sein [2], [3].

Während in der somatischen Medizin Erkrankungen des Säuglings seit vielen Jahren in allen internationalen Diagnose- und Klassifikationssystemen ihren Platz haben und die Neonatologie eine anerkannte Subdisziplin der Pädiatrie ist, ist das Wissen um sowohl die Entstehungsbedingungen psychischer Störungen und Erkrankungen im Säuglingsalter als auch um deren Behandlung gering. Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie nehmen in der Regel Kleinkinder erst ab dem 3. Lebensjahr zur stationären Behandlung auf; das Kapitel V der ICD-10 beschreibt in den Abschnitten F8 (Entwicklungsstörungen) und F9 (Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend) nur ansatzweise Störungsbilder, die sich bedingt auf Säuglinge beziehen. Dabei leben in der Bundesrepublik zwischen 3 und 4 Millionen Kinder von Eltern mit einer psychischen Erkrankung, das kindliche Störungsrisiko bei psychischen Auffälligkeiten der Eltern ist um den Faktor 2-3 gegenüber einer Vergleichsgruppe erhöht und 30-45% der Kinder in stationärer kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung haben einen psychisch kranken Elternteil [4].

Aus dem engen Zusammenhang zwischen der mütterlichen Erkrankung und den Entwicklungsbelastungen/Störungsrisiken für das Kind leitet sich die Notwendigkeit eines spezifischen Settings ab, das die Behandlung der postpartalen psychischen Erkrankung der Mutter mit der Prävention und gegebenenfalls Therapie der kindlichen Entwicklungsstörungen verbindet. Demgemäß sind für die Behandlung von Mutter und Säugling fachärztliche Kompetenzen sowohl im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie als auch Kompetenzen in Diagnostik und Therapie von psychischen und Bindungsstörungen im Säuglingsalter zwingend indiziert und geboten.

Die Veröffentlichung von Hartmann [5] stellt für Deutschland einen Durchbruch dar: Mutter-Kind-Behandlungseinheiten (MKE) bieten nun die einmalige Möglichkeit, neben der Behandlung der psychisch erkrankten Mutter auch die für die kindliche Entwicklung und den Verlauf der mütterlichen Erkrankung bedeutende Mutter-Kind-Interaktion zu fördern, primärpräventiv tätig zu sein, bereits vorliegende Beziehungsstörungen beim Säugling zu behandeln und spätere psychische Erkrankungen beim Kind zu vermeiden [6]. Hornstein argumentiert, dass sich diese Ziele nicht mit dem in der Geburtshilfe und Pädiatrie auch in Deutschland üblichen "Rooming-in" realisieren lassen [7]. Wenn die singuläre Möglichkeit zur Primärprävention im Bereich der Psychiatrie bei einer sowohl unter biologisch-genetischen als auch unter psychosozialen Aspekten definierten Hochrisikogruppe genutzt werden soll, müssen Therapieangebote sich auch auf das Kind bzw. auf die frühe Mutter-Kind-Interaktion und -Beziehung erstrecken. Auch stellt die gemeinsame Behandlung von Mutter und Säugling einen nachdrücklichen protektiven Faktor hinsichtlich des Infantizids oder erweiterten Suizids dar [5]. In Einzelfällen erfolgt eine Einschätzung der Erziehungsfähigkeit der Mutter und selten eine Trennung von Mutter und Säugling in Zusammenarbeit mit dem zuständigen Jugendamt [5].

Um die Benachteiligung postpartal psychisch erkrankter Frauen zu beenden und die Chance der Primärprävention für die Kinder der erkrankten Mütter zu nutzen, errechneten Lanczik et al. 1997 im Deutschen Ärzteblatt [8] für die Bundesrepublik einen Bedarf von mindestens 9,6 Mutter-Kind-Betten pro eine Million Einwohner. Eine eigene bundesweite Erhebung 2007 [9] erbrachte, dass der Bedarf an stationären Mutter-Kind-Behandlungsangeboten in der BRD erst zu 21% gesichert ist. Aktuell ist die weitere Entwicklung sowie die Fortführung von Mutter-Kind-Einheiten wegen des fehlenden Finanzierungsrahmens der Mehrkosten, die durch die Therapie der Beziehungsstörung zwischen Mutter und Kind entstehen, gefährdet. Dabei ist der Bedarf groß und die Unterversorgung hoch: Die Heidelberger Postpartum-Studie von Reck ergab bei einer Heidelberger Normalpopulation von 862 Müttern, dass bei 7,1% eine gestörte Mutter-Kind-Bindung vorlag, die bei der Untergruppe der Mütter mit einer postpartalen Depression auf 17% anstieg [10]. Bei der schwer erkrankten Klientel einer stationären MKE steigt die Inzidenz von Beziehungsstörungen beim Säugling deutlich. Erste Forschungsergebnisse zeigen: Bei einem Heidelberger MKE-Kollektiv erhielten 50% der Säuglinge den Status "Indexkind" [11]; eine erste, noch nicht publizierte Auswertung des Kollektivs der LWL-Klinik Herten ergibt bei 75% der Säuglinge Beziehungsstörungen.

Die Therapie der Beziehungsstörung generiert deutliche Mehrkosten, die durch den tagesgleichen Pflegesatz für die Mutter nicht gedeckt sind. Wegen der deutlich höheren Personalkosten ist von dem 1,5- bis 2,0-fachen Tagespflegesatz auszugehen. Eine detaillierte Kostenrechnung für die MKE der LWL-Klinik Herten (reine Mutter-Kind-Station mit 8 Betten, 2 Tagesklinikplätzen und Spezialambulanz) im Jahre 2004 erbringt für die stationäre Mitaufnahme des Säuglings und die Therapie der Bindungsstörung zwischen Mutter und Säugling Mehrkosten in Höhe von 2000 Euro. Im Einzelnen resultieren diese Mehrkosten aus der videogestützten beziehungsanalytischen Mutter-Kind-Körpertherapie [12], Babymassage, Mutter-Säugling-Spielgruppen, Personalmehrkosten für Kinderkrankenschwestern/Erzieherinnen zur Entlastung der Mutter sowie zur Anleitung und zur Unterstützung der Mutter bei der Säuglingspflege.

Bundesweit besteht bisher keine Regelung zur Finanzierung der beschriebenen Mehrkosten. In Einzelfällen konnten Kliniken in den jährlichen Budgetrunden mit der gesetzlichen Krankenversicherung erreichen, dass die Einstufung der Patientinnen in die Kategorie A2 der Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) erfolgt. Dabei ermöglicht die PsychPV durchaus eine adäquate Erfassung der Kosten, indem die postpartal psychisch erkrankte Mutter in die entsprechende A-Kategorie (in der Regel A1) und der Säugling in die entsprechende KJ-Kategorie (bei vorliegender Beziehungsstörung KJ1, ansonsten KJ6) eingestuft werden.

Eine adäquate Finanzierung von Mutter-Kind-Einheiten ist dringend geboten: zum einen aus volkswirtschaftlichen Gründen (Folgekosten für die Unterbringung des Säuglings während des stationären Aufenthaltes der Mutter wie auch für die spätere Behandlung eines ggf. ebenfalls psychisch erkrankten Kindes entfallen); zum anderen aus medizinischen Gründen (auch wenn die Mutter Indexpatientin ist, liegt bei dem Säugling zu einem hohen Prozentsatz auch eine psychische Störung vor; die Behandlung der Mutter-Säuglings-Beziehungsstörung ist am ehesten geeignet, Infantizide und erweiterte Suizide zu verhindern).

Luc Turmes, Herten

Email: luc.turmes@wkp-lwl.org

Literatur

  • 01 Marks M N, O'Hara M W, Glangeaud-Freudenthal N , et al . Transcultural study of postnatal depression (TCS-PND): development and testing of harmonised research methods.  Br J Psychiatry. 2004;  184 (Suppl. 46) 17-23
  • 02 Hammen C , Brennan P . Severity, chronicity and timing of maternal depression and risk for adolescent offspring diagnoses in a community sample.  Arch Gen psychiatry. 2003;  60 253-258
  • 03 NICHD Early Child Care Research Network . Chronicity of maternal depressive symptoms, maternal sensitivity and child functioning at 36 months.  Dev Psychol. 1999;  35 1297-1310
  • 04 Remschmidt H , Mattejat F . Kinder psychotischer Eltern.. Göttingen: Hogrefe; 1994
  • 05 Hartmann H P. Mutter-Kind-Behandlung in der Psychiatrie.  Psychiat Prax. 1997;  24 56-60, 172-177, 281-285
  • 06 Reck C , Weiss R , Fuchs T , et al . Behandlung der postpartalen Depression: Aktuelle Befunde und Therapiemodell.  Nervenarzt. 2004;  75 1068-1073
  • 07 Hornstein C , Wortmann-Fleischer S , Schwarz M  Stationäre Mutter-Kind-Aufnahme: Mehr als Rooming-In?. In: Rohde J A, Riecher-Rössler A , (Hrsg.) Psychische Erkrankungen bei Frauen, Psychiatrie und Psychosomatik in der Gynäkologie. Regensburg: Roderer; 2001: 287-294
  • 08 Lanczik M H, Brockington I F. Postpartal auftretende psychische Erkrankungen.  Dtsch Ärztebl. 1997;  46 2522-2526
  • 09 Turmes L , Hornstein C . Stationäre Mutter-Kind-Behandlungseinheiten in Deutschland. Ein Bericht zum Status quo.  Nervenarzt. 2007;  78 773-779
  • 10 Reck C . Postpartale Depression: Mögliche Auswirkungen auf die frühe Mutter-Kind-Interaktion und Ansätze zur psychotherapeutischen Behandlung.  Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 2007;  3 234-244
  • 11 Fricke J , Fuchs T , Weiss R , et al . Mutter-Kind-Behandlungen bei postpartalen Störungen im internationalen Vergleich.  Fortschr Neurol Psychiat. 2006;  74 503-510
  • 12 Lier-Schehl H . Prävention und beziehungsfördernde Therapie bei frühkindlichen Beziehungsstörungen in einer stationären psychiatrischen Mutter-Kind-Station. In: Turmes L , (Hrsg.) Das psychiatrische Fachkrankenhaus zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Dortmund: PsychoGen; 2003: 65-77
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