Psychiatr Prax 2010; 37(5): 255-256
DOI: 10.1055/s-0030-1262362
Leserbriefe

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Berger H. Wege in die Zukunft – Einige Skizzen zur Weiterentwicklung der Psychiatrie in Deutschland. Psychiat Prax 2010; 37: 202–205

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Publication Date:
05 July 2010 (online)

 

Herr Berger skizziert in seinem Aufsatz die aktuelle psychiatrische Versorgungs.situation mit den Worten, dass Zweifel angebracht seien, ob die derzeit bestehenden "höchst heterogenen Versorgungsstrukturen" den besonderen Bedürfnissen chronisch Kranker gerecht würden. Es gebe zunehmend Hinweise auf eine "Zunahme der Morbidität und zunehmende Abwanderung chronisch Kranker in die Obdachlosigkeit oder in Kliniken für forensische Psychiatrie, deren Bettenzahl in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen hat". Um den komplexen Bedürfnissen v.a. Schwerstkranker gerecht zu werden, müssten in Zukunft neben der Fokussierung auf das Pathogeneseprinzip v.a. auch salutogenetische Konzepte in den Alltag integriert werden, um jene Wirkfaktoren zu befördern, die Patienten befähigen, ein höheres Maß an aktiver Teilhabe am Gesundungsprozess und ein höheres Maß an Selbstbefähigung sowie der Fähigkeit der Krankheitsbewältigung aufzuweisen.

Die hierzu erforderlichen Behandlungsregimes könnten nicht "in das enge Korsett eines 3-wöchigen Klinikaufenthaltes" gezwungen werden, sondern bedürften viel mehr "in aller Regel einer mehrmonatigen Intervention und der Inanspruchnahme verschiedener Dienste", mit all an den dabei an den Schnittstellen stehenden Reibungsverlusten und Finanzierungsproblemen.

Zur Stärkung der Selbstbefähigung der Erkrankten sei neben einer sorgfältigen Diagnostik eine "umfassende Aufklärung unter Einbezug der Angehörigen, einer Psychoedukation, eine Einzel- und Gruppenpsychotherapie und eine sachkundige Psychopharmakotherapie" erforderlich sowie die "gezielte Förderung all der Prozesse, die unter den Begriffen aktive Partizipation, Empowerment und Recovery zusammengefasst werden können. In seinen weiteren Ausführungen schlägt er die Bildung von Kompetenzteams vor, deren Mitarbeiter sich einrichtungsübergreifend zusammensetzen sollten und alle Maßnahmen bündeln müssten, um besonders Schwerstkranke gezielt zu unterstützen. Die Effizienz derartiger Teams müsste aber erst in entsprechenden Studien evaluiert werden.

Als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychoedukation möchte ich in diesem Kontext nochmals auf die Bedeutung Psychoedukativer Interventionen verweisen. Der von allen therapeutisch Tätigen gern zitierte "Mündige Patient" braucht eine gewisse Grundbefähigung, um das handwerkliche Rüstzeug zu besitzen, von einer informierten und kompetenten Warte aus sachkompetent mitentscheiden zu können. Die Konzepte des "Shared Decision Making" würden zu .einer Farce verkommen, wenn die Patienten gar nicht wissen, über was sie genau mitentscheiden sollen.

Die Psychoedukation versteht sich als eine systematische, psychotherapeutisch-didaktische Intervention, um die von der Erkrankung Betroffenen und deren Angehörige zu befähigen, die Krankheit zu verstehen und die hierzu erforderlichen Behandlungsmaßnahmen gezielt zu nutzen. Bei Ersterkrankten muss in vielen Fällen geradezu von einer "Alphabetisierung" der Erkrankten gesprochen werden, bei wiederholt Erkrankten ist immer wieder eine gewisse "Nachschulung" erforderlich, um sie auf den neuesten Stand der aktuell zur Verfügung stehenden Behandlungskonzepte zu bringen. Angesichts der Zersplitterung unseres Versorgungssystems müssen die Betroffenen selbst einen guten Überblick über die zur Verfügung stehenden Behandlungs- und Versorgungskonzepte haben. Gleichsinniges gilt für deren Angehörige, die ebenfalls umfassend und intensiv in das Krankheitsbild eingeführt werden müssen, um ihre erkrankten Familienmitglieder fachkompetent und gut orientiert begleiten zu können.

Auch wenn es in manchen sozialpsychiatrisch orientierten Kreisen als anachronistisch angesehen werden mag, auf eine ausreichend lange und intensive stationäre Behandlung zu bestehen, so kann das von Prof. Berger angeführte Argument, dass statt eines 3-wöchigen Klinikaufenthaltes eine mehrmonatige Intervention erforderlich sei, nur nachhaltigst unterstrichen werden. Zahlreiche Studien (u.a. auch die 7-Jahres-Katamnese unserer PIP-Studie [1]) haben gezeigt, dass es durch eine intensive Psychoedukation während eines ausreichend langen stationären Aufenthaltes zu einer nachhaltigen positiven Beeinflussung des anschließenden Krankheitsverlaufes kommt.

Die Konsequenz aus diesen Studien würde lauten: Mit Engagement und Beherztheit einen ausreichend langen stationären Aufenthalt während der akuten Krankheitsphase organisieren, eingerahmt von einer intensiven Psychoedukation mit maximaler Beziehungsarbeit, um auf dem Boden einer tragfähigen Beziehung jene komplementären psychosozialen Maßnahmen aufbauen zu können, die langfristig den Behandlungserfolg sichern. Dass all diese Maßnahmen auf einer exzellenten Psychopharmakotherapie beruhen müssen, muss nicht weiter erwähnt werden. Aus Sicht der DGPE sind die von Prof. Berger genannten Argumente einer ausreichend langen und intensiven stationären Behandlung mit intensiver Psychoedukation voll und ganz zu unterstützen.

Josef Bäuml, München

Email: j.baeuml@lrz.tu-muenchen.de

Literatur

  • 01 Bäuml J , Pitschel-Walz G , Volz A , et al . Psychoeducation in Schizophrenia: Rehospitalisation and Hospital Days – 7 Year Follow-Up of the Munich Psychosis Information Project Study.  J Clin Psychiatry. 2007;  68 854-861
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