Geburtshilfe Frauenheilkd 2010; 70(9): R64-R82
DOI: 10.1055/s-0029-1241006
GebFra-Weiterbildung | Leitlinie

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause – Kurzversion der S3-Leitlinie

Version 21. 8. 2009Mitarbeiter: C. Albring, E. Baum, M. J. Beckermann, M. W. Beckmann, M. Blettner, B. Böhm, C. Brucker, M. Dören, G. Emons, D. Foth, F. Geisthövel, T. Gudermann, P. Hadji, L. Kiesel, D. Klemperer, K. König, E. Lindhoff-Last, A. Ludolph, A. O. Mueck, I. Naß-Griegoleit, D. Noss, O. Ortmann, E. Petri, T. Rabe, V. Regitz-Zagrosek, H. Schulte, F. Siedentopf, T. Strowitzki, E. Windler
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Publication Date:
23 September 2010 (online)

Präambel

Die Kurzversion der interdisziplinären S3-Leitlinie zur Hormontherapie (HT) in der Peri- und Postmenopause soll Ärzten sowie Frauen, die eine HT erwägen, bei der Entscheidungsfindung behilflich sein. Sie dient der Anwendung im ärztlichen Alltag. Sie stellt eine gekürzte Fassung der Langversion dar. Dieser sind die detaillierten Informationen zum Entstehungsprozess der Leitlinie insbesondere zur Aufarbeitung der Evidenz der Langversion zu entnehmen. Die vollständig wiedergegebenen Statements und Empfehlungen sind mit den dazugehörigen Levels of Evidence (LoE) und Empfehlungsgraden versehen. Dabei wurde das Klassifikationssystem des „Centre for Evidence-based Medicine“ in Oxford angewendet ([Tab. 1]).

Tab. 1 Klassifikationssystem des „Centre for Evidence-based Medicine“ in Oxford mit den Levels of Evidence (LoE) und Empfehlungsgraden. LoE Studien zur Diagnose nach 1 1 a Systematische Übersicht über Level-1-diagnostische Studien oder diagnostische Entscheidungsregel, begründet auf 1b-Studien, validiert in verschiedenen klinischen Zentren. 1 b Validierungskohortenstudie mit gutem Referenzstandard oder diagnostischer Entscheidungsregel, validiert in einem Zentrum. 1 c Alle-oder-Keiner-Prinzip (absolute SpPins und SnNouts). 2 a Systematische Übersicht über Level-2-diagnostische Studien. 2 b Explorative Kohortenstudie mit gutem Referenzstandard. 3 a Systematische Übersicht über Level-3-diagnostische Studien. 3 b Nicht konsekutive Studie; oder ohne Konsistenz der angewendeten Referenzstandards. 4 Fall-Kontroll-Studien, schlechte oder nicht unabhängige Referenzstandards. 5 Expertenmeinung ohne exakte Bewertung der Evidenz oder basierend auf physiologischen Modellen/Laborforschung. LoE Studien zur Prävention/Ätiologie/Therapie nach 1 1 a Systematische Übersicht über randomisierte kontrollierte Studien (RCT). 1 b Eine RCT (mit engem Konfidenzintervall). 1 c Alle-oder-Keiner-Prinzip. 2 a Systematische Übersicht über gut geplante Kohortenstudien. 2 b Eine gut geplante Kohortenstudie oder ein RCT minderer Qualität. 2 c Outcome-Studien, ökologische Studien. 3 a Systematische Übersicht über Fall-Kontroll-Studien. 3 b Eine Fall-Kontroll-Studie. 4 Fallserien oder Kohortenstudien/Fall-Kontroll-Studien minderer Qualität. 5 Expertenmeinung ohne explizite Bewertung der Evidenz oder basierend auf physiologischen Modellen/Laborforschung. Konsensuskriterien für den Empfehlungsgrad: Konsistenz der Studienergebnisse Klinische Relevanz der Endpunkte und Effektstärken Nutzen-Risiko-Verhältnis Ethische Verpflichtung Patientenpräferenzen Anwendbarkeit, Umsetzbarkeit Grad Empfehlungsgrad für die Handlungsoption nach 2 A starke Empfehlung: „SOLL“ B Empfehlung: „SOLLTE“ 0 Empfehlung offen: „KANN“ (Handlungsoption) Negativ-Empfehlungen werden sprachlich ausgedrückt: „NICHT“ bei gleichen Symbolen. GA Guideline-Adaptation GCP Good-Clinical-Practice GEP Good-Epidemiology-Practice

Literatur

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Kommentar 1

M. Ludwig

Mit der mehrere Hundert Seiten starken S3-Leitlinie zur Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause wird eine Sammlung der aktuellen wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema vorgelegt. Das interdisziplinäre Autorenteam hat in dieser Leitlinie aber nicht nur die Daten so aufgearbeitet, dass die praktisch tätigen Gynäkologinnen und Gynäkologen damit arbeiten können.

Die Leitlinie lebt von sehr klaren Statements, die jeweils nach ihrem Evidenzgrad beurteilt werden. Allein dies hilft den verschreibenden Ärztinnen und Ärzten, mit mehr Sicherheit die entsprechenden Präparate anzuwenden. Dabei werden aber eben nicht nur die Indikationen beurteilt, sondern auch die Grenzen dargestellt. So kommen die Autoren zu dem Schluss, dass „Effekte auf die Lebensqualität“ unklar und „Schlafstörungen, verschiedene körperliche Beschwerden, Harnwegsbeschwerden, sexuelle Probleme (und) Stimmungsänderungen … inkonsistent berichtete Beschwerden“ sind.

Die Leitlinie ist unterteilt nach den möglichen zu behandelnden Beschwerden. In 18 Kapiteln werden die verschiedenen Organsysteme in Hinblick auf die Anwendung der Hormontherapie beleuchtet. Zusätzlich gibt es Kapitel zu alternativen Therapiestrategien und zur Risikokommunikation sowie zu allgemeinen Themen der Anwendung. Die Hilfestellungen zur Risikokommunikation, geboren aus dem Bewusstsein, dass die Patientin häufig nicht in der Lage ist, relative Risiken korrekt einzuschätzen, sind gut zusammengestellt worden. Die Kurzversion der Leitlinie, die sicherlich die meiste Anwendung in der Praxis finden wird, fasst jeweils punktuell die Evidenzlage zusammen und mündet pro Unterkapitel in den grafisch abgesetzten Statements und Empfehlungen.

Bei den kritisch zu beurteilenden Fragen, wie z. B. der kardiovaskulären Prävention durch eine Hormontherapie, bemüht sich das Autorenteam um eine sachliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Standpunkten zu diesen Themen. Hier wird sicherlich der eine oder andere Leser die differenziertere Auseinandersetzung vermissen. Sie kann jedoch nicht Gegenstand einer solchen Leitlinie sein, die sich am Ende auf die evidenzkräftige Literatur und nicht auf individuelle Überlegungen – die durchaus korrekt sein können – stützen kann.

Weiterhin bleiben alle Gynäkologinnen und Gynäkologen, die Hormonpräparate in der Perimenopause verschreiben, aufgerufen, im individuellen Fall die optimale Präparation zu finden und darüber zu beraten. Mit dieser Leitlinie haben sie die Möglichkeit, im schnellen Zugriff die dazu notwendige Datenlage zu eruieren.

Prof. Dr. Michael Ludwig
Endokrinologikum Hamburg
Zentrum für Hormon-und Stoffwechselerkrankungen,
Reproduktionsmedizin und Gynäkologische Endokrinologie
Lornsenstr. 4–6
22767 Hamburg
E-Mail: Michael.Ludwig@endokrinologikum.com

Kommentar 2

I. Kopp

Nach 3-jähriger Arbeit wurden die früheren Konsensusempfehlungen zur Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause durch eine evidenzbasierte Leitlinie der höchsten Qualitätsstufe (S3) ersetzt, deren Kurzversion in dieser Ausgabe präsentiert wird.

Leitlinien erhalten nach dem Regelwerk der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) dann das Prädikat S3, wenn sie auf einer systematischen Analyse der wissenschaftlichen Belege, d. h. aktuellem Wissen aus klinischen Studien, und der strukturierten Konsensfindung eines repräsentativen Gremiums, d. h. Erfahrung und Werteurteilen der Experten und Betroffenen beruhen. Zusätzlich müssen sie internationalen methodischen Standards gerecht werden, die im Deutschen Leitlinien-Bewertungs-Instrument (DELBI) zusammengefasst sind.

Obwohl international bereits zahlreiche Leitlinien und Empfehlungen zum Thema Hormontherapie existieren, entsprechen nur die wenigsten diesen allgemein geforderten methodischen Gütekriterien und unterscheiden sich viele hinsichtlich der Darstellung und Wertung medizinischer Sachverhalte. Solche Publikationen machen es dem Leser schwer, die Verlässlichkeit der gebotenen Inhalte einzuschätzen. Ein Anhaltspunkt ist die Qualitätsbeurteilung der zitierten Datenlage. Es ist belegt, dass man in nicht randomisierten Studien mit erheblichen Verzerrungen von Effekten rechnen muss. Diese methodische Schwäche kann durch eine sorgfältige Bewertung der Gesamtmethodik nicht kompensiert werden und ist bei der Formulierung von Empfehlungen zu berücksichtigen. Unzweifelhaft eröffnen aber auch die vielen Grauschattierungen der Evidenz aus klinischen Studien erheblichen Spielraum für die Interpretation. Zudem liegt auf der Hand, dass unterschiedliche Interessen und persönliche Standpunkte bzw. Wertvorstellungen von Autoren zu unterschiedlichen Schwerpunkten der Betrachtungsweise und Informationsdarstellung führen können. Es muss jedoch nachvollzogen werden können, inwieweit solche Unterschiede tatsächlich in der Sache angemessen sind. Aus diesen Gründen sind methodische Exaktheit und Transparenz der Vorgehensweise bei der Betrachtung der Qualität der Datenlage und bei der Entwicklung von abgestuften Empfehlungen in Leitlinien elementar.

An der S3-Leitlinie zur Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause haben Experten aus 18 medizinischen Fachgesellschaften und Organisationen sowie Vertreterinnen von 2 Frauen- bzw. Patientinnenorganisationen mitgewirkt. Nach einer systematischen Literaturrecherche wurden 6000 Literaturquellen und bereits erschienene Leitlinien zum Thema Hormontherapie gesichtet und nach formalen Kriterien bewertet. Die methodisch besten Publikationen wurden ausgewählt, um die aktuellen Empfehlungen zu formulieren.

Für die Volltext- bzw. Langversion der Leitlinie wurde zu jeder Empfehlung ein ausführlicher Quellentext verfasst, um den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis transparent zu machen. Zur Erleichterung einer adäquaten Bewertung von Nutzen und Risiken im individuellen Beratungsgespräch und als Entscheidungshilfe für die Praxis sind die relevantesten Informationen in einem Kapitel „Risikokommunikation“ zusammengefasst. Alle an der Leitlinienentwicklung Beteiligten haben potenzielle Interessenkonflikte offen gelegt, die sich z. B. aus Beratertätigkeiten für oder Forschungsförderungen durch die Industrie ergeben könnten. In einem 50-seitigen Report ist der Entstehungsprozess der S3-Leitlinie in allen Schritten dargestellt. Dieser Leitlinienmethodenreport und die Volltextversion sind im Internet frei zugänglich (www.awmf-leitlinien.de).

Die vorgelegte S3-Leitlinie richtet sich an Ärztinnen und Ärzte in Klinik und Praxis, um evidenzbasierte Entscheidungshilfen für die angemessene Indikationsstellung und für die sachgerechte Information Rat suchender Frauen zu vermitteln. Die Leitlinie richtet sich aber auch an interessierte Frauen mit dem Ziel, den Kenntnisstand über die Hormontherapie in der Peri- und Postmenopause zu verbessern und ihnen eine informierte, partizipative Entscheidungsfindung zu ermöglichen.

Leitlinien werden oft im Zusammenhang mit ihren möglichen mediko-legalen Konsequenzen und ihrer Rolle im Spannungsfeld zwischen ärztlicher Therapiefreiheit und zunehmenden Regulierungsmaßnahmen diskutiert. Dazu ist zu betonen, dass Leitlinien im Gegensatz zu Richtlinien nicht verbindlich sind und auch nicht die klinische Erfahrung ersetzen können. Die Anwendbarkeit einer bestimmten Empfehlung ist immer unter Berücksichtigung der individuellen Anamnese und der vorliegenden Gegebenheiten wie Grund- und Begleiterkrankungen sowie Präferenzen der Ratsuchenden zu prüfen. Evidenzbasierte Empfehlungen reflektieren immer eine Gruppenperspektive: die Ergebnisse in Studienkollektiven und die Einschätzung eines Leitliniengremiums. Abweichungen im individuellen Fall können demnach sogar notwendig sein, jedoch bleibt nach Hippokrates festzustellen:

„Die Erfahrung allein ist eine gefährliche Lehrmeisterin. Die durch sie nur allein geleitet Arzneikunst treiben, stürzen die Kranken leicht ins Grab … Was aber diejenigen nicht einsehen, denen unter ihrer Leitung die meisten Fälle davon vorkommen.“

Prof. Dr. Ina B. Kopp
AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement
c/o Philipps-Universität
Karl-von-Frisch-Straße 1
35043 Marburg
kopp@staff.uni-marburg.de
kopp@awmf.org

Prof. Dr. Olaf Ortmann

Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Universität Regensburg
Caritas-Krankenhaus St.-Josef

Landshuter Straße 65

93053 Regensburg

Email: ortmann@caritasstjosef.de

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