Arzneimittelforschung 2011; 61(11): 637-638
DOI: 10.1055/s-0031-1300567
PMS-Symposium Innovative Therapies in Palliative Care
Editio Cantor Verlag Aulendorf (Germany)

Was ist Lebensqualität in der Palliativmedizin?

Gian Domenico Borasio
1   Lehrstuhl für Palliativmedizin, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, Universität Lausanne, Schweiz
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Publication Date:
06 February 2012 (online)

Die Definition der Palliativmedizin durch die Weltgesundheitsorganisation stellt fest:

„Palliativmedizin dient der Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.” [1]

Damit kommt dem Begriff der Lebensqualität eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis der Palliativmedizin zu. Das gesamte Fachgebiet hängt gewissermaßen an diesem Begriff, da die Verbesserung der Lebensqualität das primäre Ziel dieser verhältnismäßig neuen Fachdisziplin darstellt. Es besteht allerdings keineswegs ein allgemeiner Konsens darüber, wie Lebensqualität in der Palliativmedizin definiert und wie sie gemessen werden sollte.

Die zwei wichtigsten Konstrukte, die bisher für die Messung der Lebensqualität bei schwerer Krankheit verwendet wurden, sind die sogenannte gesundheitsbezogene Lebensqualität und die individuelle Lebensqualität. Bei der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wird versucht, den Einfluss der Krankheit und der damit verbundenen Symptome und Behinderungen auf die Lebensumstände des Patienten zu erfassen, insbesondere auf seine physische Funktionsfähigkeit. Daher sind viele der angewendeten Instrumente krankheitsspezifisch bzw. besitzen krankheitsspezifische Module, wie das EORTC-QLQ-C30 [2], das für Patienten mit Tumorerkrankungen entwickelt wurde. Allen diesen Skalen ist gemeinsam, dass sie aus vorgefassten Fragebögen bestehen, bei denen die Gewichtung der einzelnen Bereiche a priori festgelegt ist (nomothetisches Prinzip). Diese Form der Erfassung legt somit von vornherein fest, welche Bereiche für die Lebensqualität von Bedeutung und wie sie zueinander zu gewichten sind. Mithin erlaubt sie keinen Spielraum für interindividuell unterschiedliche Prioritäten.

Die Prämisse, aus welcher das Konstrukt der individuellen Lebensqualität entwickelt wurde, ist die, dass nur der Patient selbst entscheiden kann, was für sie/ihn in der jeweiligen Situation Lebensqualität bedeutet bzw. definiert (idiographischer Ansatz). Dieses Konstrukt kann sich durchaus im Verlauf der Erkrankung ändern. Die bekannteste Messmethode für die individuelle Lebensqualität ist das „Schedule for the Evaluation of Individual Quality of Life – Direct Weighting” (SEIQoL-DW) [3]. Bei dieser Methode werden die Patienten nach den fünf für ihre Lebensqualität wichtigsten Bereichen gefragt, ohne jegliche externe Vorgabe. Nach der Benennung werden die Zufriedenheit und die relative Bedeutung (Gewichtung) für jeden Bereich einzeln erfragt.

In einer randomisierten Studie konnte nachgewiesen werden, dass schwerkranke Patienten die idiographische Methode als wesentlich valider betrachten im Vergleich zur nomothetischen Erfassung, und erstere bei weitem bevorzugen [4]. Zudem liefern idiographische Methoden wertvolle qualitative Informationen über individuell relevante Lebensbereiche, die für die Planung der psychosozialen Betreuung von großer Hilfe sein können.

Mit Hilfe des SEIQoL-DW konnte bei Palliativpatienten festgestellt werden, dass die subjektiv empfundene Lebensqualität häufig keinen Zusammenhang mit der Schwere der Erkrankung oder der Symptome zeigt [5]. Stattdessen scheinen nicht-physische Determinanten wie beispielsweise persönliche Wertvorstellungen [6], subjektiv empfundener Lebenssinn [7] oder Spiritualität [8] eine wesentliche Rolle für die individuelle Lebensqualität zu spielen.

Diese Unterscheidung ist von wesentlicher klinischer Bedeutung: Nach den vorliegenden Daten sind die Ursachen für Wünsche nach vorzeitiger Lebensverkürzung in der Regel im nicht-physischen Bereich zu suchen („Suffering begins where the pain ends) [9]. Der subjektiv empfundene Verlust von Hoffnung, Würde und Lebenssinn bringt regelhaft den Wunsch mit sich, eine als sinnlos und im Extremfall für sich und andere nur noch belastende Existenz baldmöglichst beenden zu wollen. Die klinische Erfahrung zeigt, dass, wenn dieses Stadium der Verzweiflung einmal erreicht ist, eine Verbesserung des Gemütszustandes trotz Einsatz aller vorhandenen therapeutischen Ressourcen außerordentlich schwierig sein kann. Daher ist es wichtig, frühzeitig diejenigen Patienten zu identifizieren, die einen deutlichen Verlust an Lebensqualität aufweisen, um die Ursachen dafür aufzuspüren und ihnen mit geeigneten psychosozialen Interventionen, die in der Regel unter Einbindung der Angehörigen erfolgen sollten, zu begegnen. Dazu kann die Erfassung der individuellen Lebensqualität wie auch die des subjektiv empfundenen Lebenssinns (s. Beitrag von PD Dr. Fegg) einen wichtigen Beitrag leisten.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es keinen „Gold-Standard” für die Erfassung der Lebensqualität in der Palliativmedizin gibt. Es kommt darauf an, mit welcher Intention und in welcher Lebensphase die Messung durchgeführt wird. Zur Evaluierung von Interventionen zur Symptomkontrolle sind krankheits- und symptomspezifische Skalen zu bevorzugen. Bei der Untersuchung der Gesamtwirkung der Palliativbetreuung, insbesondere der psychosozialen und spirituellen Aspekte, wie auch als Screening-Methode zur Identifizierung besonders belasteter Patienten erscheint die Messung der individuellen Lebensqualität als zielführend. Dabei sollte auch berücksichtigt werden, dass der idiographische Ansatz durchaus einen interventionellen Aspekt besitzt: Diese Methode bietet den Patienten die Möglichkeit einer Reflektion über die eigenen Lebensprioritäten, die für die weitere Entwicklung von adäquaten Krankheitsbewältigungs-Strategien sehr hilfreich sein kann.

 
  • Literatur

  • 1 World Health Organization. National Cancer Control Programmes: policies and managerial guidelines. 2nd ed. Genf: WHO, Genf; 2002. S. 83-91
  • 2 Aaronson NK, Ahmedzai S, Bergman B, Bullinger M, Cull A, Duez NJ, Filiberti A, Flechtner H, Fleishman SB, de Haes JC et al. The European Organization for Research and Treatment of Cancer QLQ-C30: a quality-of-life instrument for use in international clinical trials in oncology. J Natl Cancer Inst. 1993; 85 (5) 365-76
  • 3 Waldron D, O’Boyle CA, Kearney M, Moriarty M, Carney D. Quality of life measurement in advanced cancer: assessing the individual. J Clin Oncol. 1999; 17: 3603-11
  • 4 Neudert C, Wasner M, Borasio GD. Patients’ assessment of quality of life instruments: a randomised study of SIP, SF-36 and SEIQoL-DW in patients with amyotrophic lateral sclerosis. J Neurol Sci. 2001; 191: 103-9
  • 5 Neudert C, Wasner M, Borasio GD. Individual quality of life is not correlated with health-related quality of life or physical function in patients with amyotrophic lateral sclerosis. J Palliat Med. 2004; 7: 551-7
  • 6 Fegg MJ, Wasner M, Neudert C, Borasio GD. Personal values and individual quality of life in palliative care patients. J Pain Symptom Manage. 2005; 30: 154-9
  • 7 Fegg M, Brandstätter M, Kramer M, Kögler M, Haarmann-Doetkotte S, Borasio GD. Meaning in life in palliative care patients. J Pain Symptom Manage. 2010; 40: 502-9
  • 8 Murphy PL, Albert SM, Weber CM, Del Bene ML, Rowland LP. Impact of spirituality and religiousness on outcomes in patients with ALS. Neurology. 2000; 55 (10) 1581-4
  • 9 Monforte-Royo C, Villavicencio-Chávez C, Tomás-Sábado J, Balaguer A. The wish to hasten death: a review of clinical studies. Psychooncology. 2011; 20 (8) 795-804