1 Einleitung

Nicht zuletzt der sogenannte Sturm auf das US-amerikanische Kapitol im Januar 2021 hat erneut gezeigt, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist und vielerorts durch demokratiefeindliche Bewegungen aus unterschiedlichen Richtungen bedroht wird. Dass die Geschehnisse in den USA hierfür kein Einzelfall sind, zeigt ein Vorfall aus dem August 2020 in Berlin, als Rechtsradikale mit schwarz-weiß-roten Reichsflaggen die Treppe des Bundestages stürmten, versuchten in den Bundestag einzudringen und dabei Polizistinnen und Polizisten bedrohten und teilweise gewaltvoll angriffen. Gleichzeitig ermöglichen digitale Medien den niedrigschwelligen, häufig anonymen Austausch sowie die Vernetzung politisch Gleichgesinnter in verschiedenen (sozialen) Bewegungen, z. B. „Fridays for Future“, „Black Lives Matter“, „Pulse of Europe“, aber auch „PEGIDA“ oder „Querdenken“. Dies stellt Gesellschaften und mit ihr die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger sowie die Wissenschaft bzw. die Politikdidaktik vor die Herausforderung, eine (schulische) politische Bildung zu ermöglichen und zu fördern, die junge Menschen für politische und gesellschaftliche Partizipation begeistert, dabei Meinungsvielfalt und -freiheit erlaubt und gleichzeitig demokratische Strukturen und Institutionen schützt.

Das Fehlen bzw. der Zerfall demokratischer Strukturen und Institutionen führt zum Exitus einer Demokratie; demokratische Strukturen und Institutionen alleine reichen aber auch nicht aus, um das Überleben einer Demokratie zu sichern (vgl. Almond und Verba 1963; Putnam 2000; de Tocqueville 1838). Vielmehr beruht das Funktionieren einer Demokratie auch auf dem Engagement der Bürgerinnen und Bürger und der diesem Engagement zugrundeliegenden politischen und zivilgesellschaftlichen Kompetenz, welche im weiteren Verlauf dieses Beitrags als Civic Literacy beschrieben wird. Trotz der Vielschichtigkeit des Civic Literacy Begriffes beschreiben vor allem die folgenden zwei Merkmale die eigentliche Bedeutung des Begriffes: Civic Literacy beinhaltet (1) das Wissen und die Fähigkeiten, informierte Entscheidungen hinsichtlich gesellschaftlich relevanter Fragestellungen zu treffen, und (2) die für die Umsetzung der getroffenen Entscheidungen prinzipiell notwendigen Handlungsdispositionen (d. h. Motivationen, Einstellungen und Volitionen) zur politischen und zivilgesellschaftlichen Partizipation (z. B. Kultusministerkonferenz 2018; Milner 2002; Partnership for 21st Century Skills 2009).

Das politische Wissen sowie die für Partizipation notwendigen Handlungsdispositionen müssen, auch in einer gefestigten Demokratie, von jeder Generation neu erlernt bzw. verhandelt werden (vgl. Edelstein und Fauser 2001). Welches Wissen und welche Handlungsdispositionen die heranwachsende Generation von Bürgerinnen und Bürgern in Bezug auf die Demokratie und die Gesellschaft entwickelt, ist daher von besonderer Relevanz. Wichtig ist, dass die Vermittlung dieser Fähigkeiten kohärent, chancengleich und auf Basis gemeinsamer Werte und Normen erfolgt.

Aktuelle Befunde zeigten jedoch, dass schon im Jugendalter das Phänomen einer politischen Ungleichheit entlang der sozialen Ungleichheit zu beobachten ist (Achour und Wagner 2019). Herkunftsbedingte und systematische Ungleichheiten im politischen Wissen (und in politischen Einstellungen) „beschreiben […] einen Aspekt der Reproduktion sozialer und politischer Ungleichheiten und haben nicht nur eine sozialwissenschaftsdidaktische, sondern auch eine politische Dimension“ (Hahn-Laudenberg 2020, S. 53). Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study (ICCS) 2016 verdeutlichten, dass das politische Wissen von 14-jährigen Schülerinnen und Schülern in Nordrhein-Westfalen in relativ starker Abhängigkeit vom kulturellen Kapital des Elternhauses steht. Unter den 16 europäischen Vergleichsländern ist diese Abhängigkeit nur in Bulgarien noch stärker (Abs und Hahn-Laudenberg 2017). Allerdings muss die Bedeutung dieser Ergebnisse für den gesamtdeutschen Kontext, aufgrund der bildungsföderalismusbedingten Unterschiede zwischen den Bundesländern, sorgfältig abgewogen werden. Nichtsdestotrotz deuten die Ergebnisse aus dem bevölkerungsreichsten Bundesland auf den Bedarf einer systematischen Erfassung hinsichtlich des Erwerbs einer Civic Literacy im Rahmen der schulischen politischen Bildung hin, um Ungleichheiten und weitere Defizite erkennen, erklären und perspektivisch ausgleichen zu können.

Der vorliegende Beitrag konzeptualisiert ein Rahmenmodell, welches die systematische Beforschung und Evaluierung von Civic Literacy bei Schülerinnen und Schülern ermöglichen soll. Zudem wird ein neuentwickeltes Testinstrument für die Erfassung des politischen Wissens vorgestellt. Anders als bereits existierende Tests zum politischen Wissen, berücksichtigt dieser Besonderheiten des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, folgt einer systematischen Konzeptualisierung von drei Inhaltsbereichen und drei intellektuellen Fähigkeiten und ermöglicht zudem die Erfassung des politischen Wissens im Längsschnitt.

1.1 Politische Bildung in und durch Schulen

Eine Schlüsselrolle bei der chancengleichen und kohärenten Vermittlung von Civic Literacy kommt der Schule und insbesondere der schulischen politischen Bildung zu (Castillo et al. 2015; Schmid 2004). Studien verschiedener Disziplinen haben gezeigt, dass die curriculare Einbindung sowie die Qualität schulischer politischer Bildung eng mit der Civic Literacy von Jugendlichen zusammenhängt (z. B. Bayram-Özdemir et al. 2016; Bittman und Russell 2016; Manganelli et al. 2015; McAvoy und Hess 2013; Schulz et al. 2018). Die Bedeutung der schulischen politischen Bildung, vor allem in der Sekundarstufe I, wird durch die Annahme weiter verstärkt, dass das Jugendalter als Lebensabschnitt, in Verbindung mit einem gleichzeitig schwindenden Einfluss des Elternhauses, als formative Phase für den Aufbau politischer Orientierungen gilt (Vollebergh et al. 2001). So deuteten Baumert et al. (2016) die Ergebnisse der BIJU Studie (Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter) als Hinweis für eine Bestätigung der „Impressionable Years“-Hypothese (vgl. Visser und Krosnick 1998), welche annimmt, dass sich politische Orientierungen vor allem im Jugendalter manifestieren und sich anschließend verfestigen.

Die schulische (politische) Bildung hat deshalb den politisch formulierten Auftrag, „junge Menschen zu befähigen, sich in der modernen Gesellschaft zu orientieren und politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen und Probleme kompetent zu beurteilen. Dabei sollen sie ermuntert werden, für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Gerechtigkeit, wirtschaftliche Sicherheit und Frieden einzutreten“ (Kultusministerkonferenz 2018; Absatz 1). Diesen Zielen seien prinzipiell alle Unterrichtsfächer verpflichtet, insbesondere die des gesellschaftswissenschaftlichen Bereichs (Kultusministerkonferenz 2018). Die Rolle des Politikunterrichts, der das originäre Bezugsmedium schulischer politscher Bildung darstellt, wird hierbei allerdings nicht weiter definiert.

Eine zusätzliche Herausforderung für die schulische politische Bildung und die Beforschung dieser stellt die föderale Struktur des deutschen Bildungssystems dar. In den 16 Bundesländern gibt es mehr als 20 Bezeichnungen für Fächer der politischen Bildung – z. B.: European Studies (Bremen), Sozialkunde (u. a. Thüringen) und Gesellschaftslehre (u. a. Rheinland-Pfalz). Damit einhergeht, dass politische Bildung in den Bundesländern unterschiedlich häufig unterrichtet wird. Gökbudak und Hedtke (2020) konnten mit der systematischen Auswertung von Stundentafeln belegen, dass Lehrkräfte in der gymnasialen Sekundarstufe I in Hessen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen etwa acht Mal mehr Zeit haben, ihren Schülerinnen und Schülern politische Bildung nahezubringen, als Lehrkräfte in Bayern.

Zudem wird der Politikunterricht oft als das Fach beschrieben, das am häufigsten fachfremd unterrichtet wird. Tatsächlich offenbart die amtliche Schulstatistik in Nordrhein-Westfalen für das Schuljahr 2019/20, dass Politik so häufig wie kein anderes Fach von Lehrkräften ohne die entsprechende formelle Qualifikation bzw. Ausbildung im Fach Politik erteilt wurde. Besonders prekär ist die Lage an Haupt- und Sekundarschulen, an denen zuletzt etwa 80 % des Politikunterrichts fachfremd unterrichtet wurde (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2020, S. 132).

Empirische Befunde deuten auf mögliche Defizite hinsichtlich der politischen Partizipation von Schülerinnen und Schülern hin. Daten der ICCS 2016 zeigten beispielsweise, dass von den in Nordrhein-Westfalen befragten etwa 14-jährigen Schülerinnen und Schülern nur 71,7 % die Absicht haben, zukünftig an nationalen Wahlen teilzunehmen (Abs und Hahn-Laudenberg 2017). Unter der Prämisse, dass politische Partizipation und die damit verbundene Teilnahme an politischen Wahlen eines der wichtigsten Ziele des Politikunterrichts ist, scheint dieser mit Hinblick auf die Ergebnisse der ICCS 2016 in Nordrhein-Westfalen bei einem substantiellen Anteil der Schülerinnen und Schüler nicht erfolgreich zu sein.

Die dem Kompetenzmodell zugrundeliegenden Annahmen beziehen sich in ihrer wissenschaftstheoretischen Herkunft und ihrem empirischen Anspruch auf die formale, schulische politische Bildung der Sekundarstufe I und II. Perspektivisch kann durch die theoretische und empirische Erweiterung des Modells eine Anknüpfung an andere Sozialisationsinstanzen der politischen Bildung sowie Altersgruppen gelingen. Dadurch würde es möglich werden, die Bedeutung der politischen Bildung in unterschiedlichen Kontexten empirisch einer kritischen Prüfung zu unterziehen und beispielsweise die These zu prüfen, ob sich politisches Engagement auch ohne oder sogar trotz (schulischer) politischer Bildung entwickelt.

1.2 Bedeutende Kompetenzkonzeptionen der politischen Bildung aus Theorie und Empirie

Einhergehend mit der Umorientierung von einer Input- zu einer Output-Orientierung in der deutschen Bildungslandschaft (z. B. Abs und Klieme 2005; Klieme et al. 2003) und der Kompetenzdebatte zu Beginn der 2000er Jahre wurde zunehmend deutlich, dass ausschließlich normativ fundierte und entsprechend formulierte Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler (allein) nicht ausreichen und darüber hinaus keine Voraussetzung für die Identifikation der Domänenstruktur innerhalb einer Civic Literacy sein können (vgl. Weißeno 2017). Stattdessen benötigt auch die outputgeleitete Kompetenzorientierung im Bereich der schulischen politischen Bildung ein empirisches Forschungsverständnis (vgl. Biedermann und Reichenbach 2009).

Einen einflussreichen, jedoch nicht unumstrittenen, Orientierungsrahmen stellt das Modell der Politikkompetenz von Detjen et al. (2012) in Weiterentwicklung des Modells der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung von 2004 dar. Das Modell der Politikkompetenz hat einen entscheidenden Beitrag zum Wandel von einem normativ fundierten hin zu einem fachdidaktisch begründeten und kompetenzorientierten Anforderungsprofil für den Politikunterricht geleistet. Die Kritikerinnen und Kritiker des Modells, allen voran die Autorengruppe Fachdidaktik (2011), kritisieren einen zu engen inhaltlichen Zuschnitt des Modells und plädieren für eine sozialwissenschaftliche Perspektive der politischen Bildung, mit dem Ziel der Integration verschiedener Fächer und Disziplinen (vgl. Detjen 2013).

Nach Detjen et al. (2012) kann die politische Kompetenz in die vier Dimensionen (1) Fachwissen, (2) politische Urteilsfähigkeit, (3) politische Handlungsfähigkeit sowie (4) politikbezogene Motivationen und Einstellungen gegliedert werden. Es wird hierbei ein domänenspezifischer, jedoch relativ weiter pädagogisch-psychologischer Kompetenzbegriff verfolgt, der neben politischem Wissen und Fähigkeiten auch weitere Handlungsdispositionen in den Bereichen Motivation, Einstellungen und in geringerem Ausmaße auch Volition einschließt (vgl. Oberle 2018).

Durch das Kompetenzmodell und die Diskussionen hierüber hat sich in der deutschsprachigen Politikdidaktik vor allem der Begriff der Politikkompetenz etabliert. Je nach Deutung des Begriffes der Politikkompetenz, nämlich im Sinne eines engen oder eines weiten Politikbegriffs (Sutor 1994, S. 8 f.), unterscheidet sich das der Civic Literacy zugrundeliegende Politikverständnis in seiner Intentionalität, seines Situationsbezugs und seiner Interdependenz von dem Politikverständnis der Politikkompetenz. Durch den Civic Literacy Begriff soll deutlich werden, dass ein Politikverständnis im weiteren Sinne gemeint ist. Dies bedeutet, dass auch solche Sozialgebilde, deren primärer Zweck kein politischer ist, sondern das Politische in ihnen nur situationsbedingt zum Vorschein kommt (z. B. Freundeskreis, Musikverein, Schule), betrachtet werden sollen (Sutor 1994).

Durch die Aufnahme weiterer Kompetenzbereiche (zusätzlich zum politischen Wissen) und der Bestrebung einer empirisch und fachdidaktisch fundierten Konzeptualisierung dieser weiteren Bereiche soll für die zukünftige Erforschung schulischer politsicher Bildung ein über das Politikwissenschaftswissen allein hinausgehender Bezugsrahmen geschaffen werden. Anders als Hedtke (2011) verstehen wir Civic Literacy aber nicht als domänenüberspannende Kompetenz im Sinne einer Social Science Literacy sondern als Kompetenz, die der der Domäne Politik innewohnenden Interdisziplinarität gerecht wird und die gleichzeitig die spezifischen Anforderungen des Politikunterrichts berücksichtigt. Außerdem schließt der Begriff „Civic“ an bedeutende empirische Studien der politischen Kultur- und Sozialisationsforschung an (z. B. Civic Culture: Almond und Verba 1963; Civics Assessment: National Assessment Governing Board 2018; Civic and Citizenship Education Study: Schulz et al. 2016).

Für das Civics Assessment im Rahmen des US-amerikanischen National Assessment of Educational Progress (NAEP) werden die drei Dimensionen (1) Wissen, (2) Fähigkeiten und (3) Dispositionen unterschieden (National Assessment Governing Board 2018). Die verschiedenen Dimensionen werden dabei gemeinsam über unterschiedliche Aufgabenformate (z. B. Multiple Choice Fragen, Fragen mit kurzer oder langer Antwort) adressiert. Die jeweiligen Aufgaben bilden dabei zwei bis drei der genannten Dimensionen ab und werden anschließend zu einem Gesamtscore zusammengefasst.

Im Rahmenmodell zu der internationalen Vergleichsstudie ICCS 2016 von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) werden eine kognitive und eine affektiv-behaviorale Dimension definiert. Darüber hinaus wird jeder Aufgabenbereich einer von vier Inhaltsdomänen zugewiesen. Für die kognitive Dimension wurde ein Wissenstest und für die affektiv-behaviorale Dimension ein Fragebogen konzipiert und konstruiert. Die verschiedenen Teilbereiche können separat voneinander ausgewertet und interpretiert werden. Im nationalen Analyserahmen zur ICCS 2016 werden die vier Dimensionen (1) Wissen und Argumentieren, (2) Identität, (3) Partizipation sowie (4) Einstellungen und Werte unterschieden.

Zusammenfassend wird deutlich, dass alle der genannten Konzeptionen eine an der Politikwissenschaft orientierte Wissensdimension einschließen. Darüber hinaus sind jedoch auch einige Unterschiede zu beobachten. Anders als im Modell zur Politikkompetenz und der ICCS 2016 werden im Civics Assessment keine motivationalen, Einstellungs- und volitionalen Maße berücksichtigt. Behaviorale Maße in Form von bereits erfolgter Partizipation werden nur in die Konzeption des ICCS 2016 einbezogen. Anders als im fachdidaktisch begründeten Modell der Politikkompetenz vorgeschlagen, finden die Handlungs- und Urteilsfähigkeit keine Berücksichtigung in den empirischen Modellen, was vor allem in den begrenzten Möglichkeiten der Operationalisierung dieser Aspekte im Kontext der empirischen Bildungsforschung begründet sein dürfte. Ähnlich wie bei der Handlungsfähigkeit und dem damit verbundenen politischen Handeln (vgl. Detjen et al. 2012, S. 15 f.) kann politisches Urteilen in der Schule nur simuliert werden. Tatsächliches Handeln und Urteilen findet aber außerhalb der schulischen politischen Bildung statt und sollte deshalb keinen Eingang in die Benotung finden. Für die Aufnahme dieser Fähigkeiten in Assessments sind besondere Anstrengungen notwendig, um ein möglichst realitätsnahes Szenario zu ermöglichen. Besonders bei größeren Stichprobengrößen kann die Erfassung von Handlungs- und Urteilsfähigkeiten deshalb schnell zu Problemen hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ressourcen führen. Zudem ist die Handlungsfähigkeit vor allem eine Folge von Handlungsbereitschaft und auch der Urteilsfähigkeit geht ein entsprechendes politisches Wissen voraus (Manzel und Weißeno 2017). Folglich scheinen politische Handlungs- und Urteilsfähigkeit eher eine Folgefähigkeit der anderen Bereiche des Kompetenzmodells zu sein.

2 Rahmenmodell zu Civic Literacy

Den dargelegten theoretischen Überlegungen und vorgestellten Konzeptionen folgend, werden für das Rahmenmodell zu Civic Literacy ein kognitiver Bereich des politischen Wissens sowie Handlungsdispositionen in den Bereichen Motivation, Einstellung und Volition (siehe Abb. 1) als erweiternde Bereiche abgeleitet. Neben der (empirischen) Politikdidaktik begründet sich das Rahmenmodell auch in der kognitionspsychologischen Überlegung, dass Kompetenzen „kontextspezifische Leistungsdispositionen [sind], die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen“ (Klieme und Leutner 2006, S. 879). Zu den Leistungsdispositionen gehören all die Dispositionen, die für die Erreichung einer bestimmten Leistung notwendig sind. Kompetenzen stellen somit eine Verknüpfung zwischen Wissen, Motivationen, Einstellungen und Volitionen her.

Abb. 1
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Vier Bereiche von Civic Literacy

Im Folgenden wird die theoretische und konzeptionelle Bedeutung der verschiedenen Bereiche erläutert und diskutiert sowie für die Erfassung des politischen Wissens eine umfassende Testentwicklung vorgestellt, die eine standardisierte und über mehrere Erhebungszeitpunkte hinweg vergleichende Erfassung ermöglicht.

2.1 Politisches Wissen

Studien, die politisches Wissen in objektiver und überprüfbarer Form erheben, sind eher selten. Ausnahmen bilden hierbei vor allem die internationale Civic and Citizenship Education Studien (Schulz et al. 2008, 2016; Torney-Purta et al. 2001) und die Civics Assessment Studien des NAEP (z. B. National Assessment Governing Board 2014, 2018) sowie die in Deutschland durchgeführte TEESAEC-Studie (Eck und Weisseno 2009), die POWIS-Studie (Goll et al. 2011) und die WEUS-Studie (Oberle 2012). In allen Fällen ist der Wissenstest jedoch nur für eine Erhebung im Querschnitt konzipiert worden, sodass keine Aussagen über den (langfristigen) Wissenszuwachs gemacht werden können. Außerdem ist der Wissenstest der ICCS auf eine länderübergreifende Erhebung und somit auf länderunspezifische Inhalte und die TEESAEC- sowie die WEUS-Studie auf Wissen über die Europäische Union ausgerichtet, sodass eine Fokussierung auf Besonderheiten des politischen Systems in der Bundesrepublik Deutschland (z. B. föderales System) in diesen Studien nicht gegeben war. Aus diesem Grund wurde ein Testinstrument zur Erfassung des politischen Wissens neuentwickelt und wird im Folgenden vorgestellt.

2.1.1 Theorie und Konzeption des politischen Wissens

Im Kontext von Bildungsprozessen ist die Vermittlung von Wissen ein bedeutender Forschungsgegenstand. Auch für das politische Lernen und die schulische politische Bildung ist die Frage der Qualität und des Inhalts der Wissensvermittlung bedeutsam. Tatsächlich zeigen empirische Studien, dass politisches Wissen zu konsistenteren und stabileren politischen Einstellungen führt, Bürgerinnen und Bürgern beim Erreichen der eigenen Interessen hilft, die Unterstützung demokratischer Werte fördert, Vertrauen in das politische System erleichtert und zu politischer Partizipation motiviert (vgl. Reichert 2016).

Die Wissensdimension des hier vorgestellten Rahmenmodells soll die durch die schulische politische Bildung vermittelten Wissensfacetten in den Bereichen Politik und (Zivil‑)Gesellschaft adressieren. Für die Konzeption des Wissenstests wurden daher insgesamt drei Inhaltsbereiche sowie drei intellektuelle Teilfähigkeiten definiert, die in einer Matrix mit drei Zeilen und drei Spalten angeordnet werden (siehe Abb. 2).

Abb. 2
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Konzeption des Wissenstests zu Civic Literacy

Die drei Inhaltsbereiche (1) Strukturen, (2) Prozesse und (3) Werte/Inhalte entsprechen weitgehend der allgemeinen Trias der Politikwissenschaft – Polity, Politics und Policy (vgl. Blum und Schubert 2018), beziehungsweise Struktur, Performanz und Werte im deutschen Kontext (vgl. Fuchs 1997) – und knüpfen an die Basiskonzepte Ordnung, Entscheidung und Gemeinwohl des politischen Fachwissens im Modell zur Politikkompetenz (vgl. Weißeno et al. 2010) an. Der Inhaltsbereich „Strukturen“ befasst sich mit dem institutionellen Normengefüge und den daraus resultierenden Ordnungen und politischen Verfahren (z. B. das Parlament oder die Gewaltenteilung, siehe Schubert und Klein 2018). Der Inhaltsbereich „Prozesse“ bezeichnet in diesem Zusammenhang die Methode der politischen Einflussnahme durch Verhandlung, Tausch, Bewältigung von Konflikten und Herstellung von Konsens (Schubert und Klein 2018). Der Inhaltsbereich „Werte/Inhalte“ beschreibt gesellschaftliche Grundwerte und Gegenstände des politischen Tagesgeschäfts (z. B. Freiheit, Gleichberechtigung).

Die drei Teilfähigkeiten (1) Identifizieren und beschreiben, (2) Erklären und analysieren und (3) Argumentieren und abwägen stellen nicht notwendigerweise aufsteigende kognitive Anforderungen dar. Die Begriffe der intellektuellen Teilfähigkeiten wurden aus dem NAEP Civics Framework abgeleitet (intellectual skills, siehe National Assessment Governing Board 2018). Die Teilfähigkeit „Identifizieren und beschreiben“ stellt den Prozess dar, in dem Konzepten der Politik und der (Zivil‑)Gesellschaft ihre Bedeutung zugewiesen und von anderen Konzepten unterschieden wird. Es soll hierdurch ein funktionales Begriffsverständnis von Politik und Zivilgesellschaft demonstriert werden, welches notwendig ist, um den vor allem sprachbasierten Grundanforderungen der Politik entsprechen und somit politischen sowie gesellschaftlichen Debatten folgen zu können. Diese Teilfähigkeit schließt damit an die zweite Anforderungsstufe des Konzepts einer modernen Allgemeinbildung von Bybee (1997) an, in der es um die bedeutungsgerechte Verwendung von Begriffen geht (siehe auch Weißeno et al. 2010, S. 19 für eine Einordnung des Konzepts in den Civic Literacy Diskurs). Die Teilfähigkeit „Erklären und analysieren“ behandelt die Verknüpfung von verschiedenen Konzepten. Die Schülerinnen und Schüler bekommen die Aufgabe, verschiedene Aspekte der Politik oder der Gesellschaft in Verbindung zueinander zu stellen und sinnvolle Argumente bzw. Erklärungen für diese Zusammenhänge zu identifizieren. Für die richtige Beantwortung dieser Items ist ein konzeptuelles Verständnis notwendig. Auch in dem Modell nach Bybee (1997) bildet das konzeptuelle Verständnis die nächste Anforderungsstufe. Schließlich beschreibt die Teilfähigkeit „Argumentieren und abwägen“ die Fähigkeit, unterschiedliche Maßnahmen für ein politisches oder gesellschaftliches Problem den jeweiligen Umständen entsprechend adäquat zu bewerten. Die Schülerinnen und Schüler müssen für die richtige Beantwortung entsprechender Fragen ein multidimensionales Politikverständnis demonstrieren. Hierfür werden die Schülerinnen und Schüler mit einer politisch oder gesellschaftlich relevanten Situation und vier unterschiedlich angemessenen Lösungsoptionen sowie einem vorgegebenen Argumentationsrahmen konfrontiert. Die Aufgabe der Schülerinnen und Schüler ist es, die entsprechend des Argumentationsrahmens beste der gegebenen Lösungsoptionen auszuwählen. Auch hier kann das Konzept einer modernen Allgemeinbildung von Bybee (1997) als Bezugsrahmen dienen, bei dem das multidimensionale Verständnis ebenfalls die höchste Anforderungsstufe darstellt. Anders als im Konzept der modernen Allgemeinbildung stellen die drei Teilfähigkeiten jedoch keine notwendigerweise hierarchisch ansteigenden Anforderungen dar.

2.1.2 Neuentwicklung eines Tests zum politischen Wissen

Für alle neun Zellen des Wissenstests (3 Inhaltsbereiche × 3 intellektuelle Teilfähigkeiten) wurde eine jeweils konstante Anzahl von Items konstruiert. Ein Teil der Testitems wurde aus der POWIS Studie (Goll et al. 2011) übernommen und bei Bedarf angepasst. Alle Basis- und Fachkonzepte des politischen Wissens von Weißeno et al. (2010) sind in ausgewogener Häufigkeit in den Testitems enthalten und wurden ggfs. um weitere Konzepte ergänzt (z. B. Föderalismus, Partizipation und Ideologien). Die konstruierten Testitems sind dabei auf die deutsche politische Kultur zugeschnitten, ohne dabei ausschließlich auf originär für das deutsche politische System relevante Aspekte zu rekurrieren. Das Testinstrument geht zudem über den eher engen Wissensbegriff nach Weißeno et al. (2010, S. 199) hinaus, in dem es um „das Wissen der Domäne Politik geht“. Stattdessen werden in dem hier angewandten Wissensbegriff Aspekte der Zivilgesellschaft explizit mitbedacht. Es wurden Testitems mit Fokus auf die Klassenstufen 7 und 10 konstruiert, da davon ausgegangen werden darf, dass sich vor allem in dieser Alterspanne politisches Wissen manifestiert und politische Orientierungen formieren und verfestigen (vgl. Baumert et al. 2016). Die Testitems wurden als geschlossene Fragen im Single-Choice-Format mit drei Distraktoren, die möglichst typische Prä- und Misskonzepte repräsentieren, konstruiert (siehe Abb. 3) und entsprechen methodisch den gängigen Itemkonstruktionsrichtlinien (Haladyna et al. 2002).

Abb. 3
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Beispiel-Items zum Wissenstest

Alle potenziellen Items des Wissenstests wurden durch ein Gremium bestehend aus drei Professoren und einer Professorin der deutschen Politikdidaktik sowie einer Projektleitung einer Studie zu Civic Literacy auf Einhaltung der inhaltlichen und methodischen Itemkonstruktionsrichtlinien überprüft und hinsichtlich ihrer Verortung im Wissenstest geratetFootnote 1. Die Beratung sowie das Rating durch das Expertengremium erfolgten in zwei Phasen. In der ersten Phase wurde das vorgeschlagene Modell mit den Mitgliedern des Gremiums diskutiert und eine Teilmenge der konstruierten Testitems hinsichtlich Relevanz und vorläufiger Verortung in dem Modell bewertet. Auf Basis dieser Rückmeldungen wurden neue Testitems konstruiert und bereits existierende überarbeitet. In der zweiten Phase wurden alle 143 konstruierten Testitems durch die Expertin und Experten hinsichtlich Relevanz, Schwierigkeit und Verortung im Modell des Wissenstests geratet, sodass jedes Testitem mindestens zwei Mal, in den meisten Fällen häufiger, geratet wurde. Auf Basis der Ergebnisse zu Relevanz und Schwierigkeit wurden 99 Testitems ausgewählt und den Klassenstufen 7 und 10 zugeordnet. Neben jeweils 36 klassenstufenspezifischen für die Klassenstufen 7 bzw. 10 sind auch 27 klassenstufenunspezifische Items identifiziert worden, sodass insgesamt 63 Items pro Klassenstufe eingesetzt werden können. Durch die klassenstufenunspezifischen Items wird die Möglichkeit eines Linking gegeben, damit auch Wissenszuwächse quantifiziert und weitergehend analysiert werden können. Alle neun Teilbereiche des Modells zum Wissenstest werden in gleichbleibender Testitemanzahl abgebildet. Inwieweit die Expertenratings mit den zuvor durch die Itemkonstrukteure und -konstrukteurinnen vorgenommenen Verortungen der einzelnen Items im Modell des Wissenstests übereinstimmten, wird für die 99 ausgewählten Testitems in der Abb. 4 dargestellt.

Abb. 4
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Ergebnisse des Expertenratings

Insgesamt wurde der jeweilige Inhaltsbereich bzw. die jeweilige intellektuelle Teilfähigkeit für 78 % aller Testitems der siebten und für 74 % aller Testitems der zehnten Klassenstufe richtig geratetFootnote 2. Der Anteil richtig gerateter Testitems weicht somit deutlich positiv von einer randomisierten Verteilung der Ratings (33 %) ab. Für jede intellektuelle Fähigkeit und jeden Inhaltsbereich wurden jeweils 21 Items für die Klassenstufen 7 und 10 geratet. Zudem hatten die Mitglieder des Gremiums in der zweiten Phase erneut die Möglichkeit, Testitems mit Kommentaren zu versehen, welche zur weiteren Optimierung der Testitems genutzt wurden. Anschließend wurden die Testitems von Schülerinnen und Schülern verschiedener Klassenstufen und Schulformen in kognitiven Prätests bearbeitet, auf ihre sprachliche sowie inhaltliche Schwierigkeit geprüft und bei Bedarf erneut angepasst. Die hierbei notwendig gewordenen Anpassungen waren jedoch von sehr geringem Ausmaß. Perspektivisch kann die Gesamtanzahl der Testitems bei Bedarf und unter Beachtung der Verteilung im Modell weiter reduziert werden. Die Verortung des Wissenstests im Gesamtmodell wird in Abb. 5 dargestellt.

Abb. 5
figure 5

Rahmenmodell zu Civic Literacy

2.2 Theorie und Konzeption politischer Motivationen

In der Kognitionspsychologie wird Motivation als das antizipierte Produkt einer Interaktion von Person und Situation verstanden (Heckhausen und Heckhausen 2010). Das bedeutet, dass die in einer bestimmten Situation „vorhandene Motivation einer Person, ein bestimmtes Ziel anzustreben, […] von personenbezogenen und von situationsbezogenen Einflüssen geprägt“ wird (Heckhausen und Heckhausen 2010, S. 3). Für die personenbezogenen Einflüsse kann zwischen universellen Verhaltenstendenzen in Form von elementaren psychischen Bedürfnissen und impliziten sowie expliziten Motiven unterschieden werden. Für die Kompetenzforschung sind vor allem die expliziten Motive von Interesse, da diese (1) im Gegensatz zu den universellen Bedürfnissen domänenspezifisch sein können und (2) anders als implizite Motive den Methoden des Selbstberichts zugänglich sind (Brunstein 2010). „Explizite Motive spiegeln […] die Selbstbilder, Werte und Ziele wider, die sich eine Person selbst zuschreibt und mit denen sie sich identifiziert“ (Brunstein 2010, S. 237). In der politikdidaktischen Forschung zu politischen Motivationen sind vor allem das (habituelle) politische Interesse sowie das politische Effektivitätsgefühl bedeutsam (Chryssochoou und Barrett 2017; Oberle 2018; Rasmussen und Nørgaard 2018).

Das politische Interesse wird für gewöhnlich als Vorbedingung demokratischer Teilhabe (democratic citizenship) verstanden (Neundorf et al. 2013). Verschiedene Studien zeigten einen direkten Zusammenhang zwischen politischem Interesse und politischer Partizipation (z. B. Pavlopoulos et al. 2019; Wang et al. 2019). Das habituelle bzw. überdauernde und persönliche Interesse ist „eine anhaltende individuelle Präferenz“, die sich zunehmend stabilisiert und mit einem positiven Affekt in Bezug auf das Interessensobjekt einhergeht (Landwehr 2017a, S. 94; vgl. auch Prior und Bougher 2018). Es ist somit weniger situations- bzw. aufgabenabhängig als das situationsspezifische Interesse. Für die Beschreibung des politischen Interesses unterscheiden Detjen et al. (2012) folgende drei Aspekte: (1) selektive Aufmerksamkeit gegenüber politischen Objekten und Ereignissen, (2) relativer Bedeutungsüberschuss von Politik gegenüber anderen Lebensbereichen und (3) das Bestreben, den Gegenstandsbereich Politik verstehen zu können (vgl. auch Russo und Stattin 2017).

Die Selbstwirksamkeit, bzw. das individuell empfundene Effektivitätsgefühl, kann als Überzeugung eines Menschen verstanden werden, auch herausfordernde Situationen selbständig oder kollektiv bewältigen zu können (Bandura 1977). Das politische Effektivitätsgefühl kann als die Einschätzung der eigenen oder kollektiven Effektivität im Bereich der Politik beschrieben werden (Oberle 2018). Für das politische Effektivitätsgefühl kann zwischen dem internen und dem externen politischen Effektivitätsgefühl unterschieden werden (z. B. Rasmussen und Nørgaard 2018). Während das interne politische Effektivitätsgefühl die eigene Fähigkeit zur Beeinflussung der politischen Willensbildung (gelegentlich auch beschrieben als politische Selbstwirksamkeit, vgl. Oberle und Wenzel 2019) ausdrückt, beschreibt das externe politische Effektivitätsgefühl die wahrgenommene allgemeine Responsivität bzw. kollektive Beeinflussbarkeit des politischen Systems.

Das politische Interesse sowie das politische Effektivitätsgefühl sind demnach zentrale Facetten der politischen Motivation und somit Teil des Kompetenzmodells zu Civic Literacy.

2.3 Theorie und Konzeption politischer Einstellungen

Einstellungen sind psychische Tendenzen, die dadurch zum Ausdruck kommen, dass ein bestimmtes Objekt mit einem gewissen Grad an Zuneigung oder Ablehnung bewertet wird (Eagly und Chaiken 1993), wofür auf kognitive, affektive oder behaviorale Informationen zurückgegriffen werden kann (Maio et al. 2018). Einstellungen werden folglich durch wertende Urteile zum Ausdruck gebracht. Dabei unterscheiden sich Einstellungen einerseits in ihrer Valenz – zum Beispiel kann ein Objekt positiv, neutral oder negativ bewertet werden – und andererseits in ihrer Intensität (Maio et al. 2018).

Detjen et al. (2012, S. 92) nehmen explizit Bezug auf politische Einstellungen und bezeichnen diese als „erworbene, dauerhafte, häufig stärker gefühlsbezogene Orientierungen gegenüber Klassen von Personen oder Objekten, die wiederum wichtige Prädispositionen für tatsächliches Handeln darstellen“. Zu unterscheiden sind politische Einstellungen von anderen Einstellungen durch ihren Bezug auf politische Sachverhalte (vgl. Gabriel 1994).

Die Einstellung gegenüber (staatsrelevanten) Objekten kann durch die Einstellung zur Demokratie abgebildet werden. Für die Einstellung zur Demokratie ist vor allem zwischen der prinzipiellen Zustimmung zu der Idee der Demokratie und ihren konstituierenden Prinzipien einerseits und der Bewertung des aktuellen Zustandes der Demokratie andererseits zu unterscheiden (Gabriel 2000). Um eine Vergleichbarkeit über verschiedene Messzeitpunkte und Regionen hinweg zu ermöglichen, wird im Kompetenzmodell auf die Einstellung zur prinzipiellen Idee der Demokratie fokussiert.

Einstellungen hinsichtlich gesellschaftlicher Gruppen bzw. Klassen von Personen können über die Einstellung zur pluralen Gesellschaft betrachtet werden. Das Plurale ist neben dem Liberalen von konstituierender Bedeutung für die deutsche Demokratie und gewinnt als Gegenstand der politischen Bildung vor allem vor dem Hintergrund einer zunehmend polarisierten Gesellschaft an Bedeutung (Albert et al. 2019; Rau und Stier 2019).

Relevante Einstellungsfacetten im Kompetenzmodell zu Civic Literacy sind daher die Einstellung zur Demokratie sowie die Einstellung zur pluralen Gesellschaft.

2.4 Theorie und Konzeption politischer Volitionen

Volitionen werden im Allgemeinen als regulative Prozesse verstanden, die darüber entscheiden, welche Motivationstendenzen bei welchen Gelegenheiten und auf welche Weise realisiert werden sollen (Heckhausen und Heckhausen 2010). Es handelt sich dabei um kognitive Prozesse, die im Rahmen der präaktionalen und aktionalen Handlungsphase auf die konkrete Realisierung von Zielen im Handeln bezogen sind (Achtziger und Gollwitzer 2010). Für die Formation von Handlungsabsichten wirken „attitude toward the behavior, subjective norm, and perception of behavioral control“ zusammen (Ajzen 1991, 2002, S. 665).

Im Kontext der politischen Bildung wird unter Volition die Partizipationsbereitschaft auf politischer und zivilgesellschaftlicher Ebene zusammengefasst. Auch für politisches und zivilgesellschaftliches Handeln gilt, dass „die Handlungsinitiierung erfolgt, wenn die Volitionsstärke der Zielintention ausreichend ist, d. h. die Person sich stark genug der Zielerreichung verpflichtet fühlt“ (Landwehr 2017b, S. 87). Die Intensität und Ausdauer der initiierten Handlung hängt dabei von der Volitionsstärke der Zielintention ab (ebd.). Demnach ist festzuhalten, dass die Partizipationsbereitschaft selbst im Zielbereich (auch schulischer) politischer Bildung liegt und als wünschenswertes Resultat definiert werden kann (Oberle 2018).

Die volitionalen Dispositionen können beispielsweise adressiert werden, indem Schülerinnen und Schüler zu ihren Intentionen hinsichtlich der Initiierung wichtiger politischer und zivilgesellschaftlicher Zielhandlungen befragt werden. Für die Unterscheidung zwischen politischen und zivilgesellschaftlichen Zielhandlungen kann auf das Modell zur politischen Teilhabe von Ekman und Amnå (2012) zurückgegriffen werden. Während für die politischen Zielhandlungen (manifest political participation) zwischen formaler politischer Partizipation und politischem Aktivismus unterschieden werden kann, gliedert sich die zivilgesellschaftliche Partizipation (civil participation, bzw. latent political participation) in politische Aufmerksamkeit und ziviles Engagement.

Beide Facetten der politischen Volition – die politische Partizipationsbereitschaft wie auch die zivilgesellschaftliche Partizipationsbereitschaft – sind integraler Bestandteil des vorgestellten Rahmenmodells zu Civic Literacy.

3 Resümee und Ausblick

Spätestens die überaus populäre und weltweit expandierende soziale Bewegung „Fridays-for-Future“ hat offenbart, dass eine aktive Teilnahme junger Menschen an der (Zivil‑)Gesellschaft, erheblichen gesellschaftlichen Wandel anstoßen kann. Nichtsdestotrotz zeigen die eingangs erwähnten Vorfälle im US-amerikanischen Kapitol im Januar 2021 sowie vor dem deutschen Bundestag wenige Monate zuvor, dass auch demokratiefeindliche politische Bewegungen von einer leichteren und anonymen Vernetzung durch die neuen sozialen Medien profitieren.

Umso wichtiger erscheint es, dass auch junge Menschen bereits ein Verständnis unseres politischen und (zivil-)gesellschaftlichen Systems haben und der Genese etwaiger demokratiefeindlicher oder -bedrohlicher Einstellungen vorgebeugt wird. Eine bedeutende Rolle kann dabei der schulischen politischen Bildung zukommen.

Obwohl das Jugend- und das junge Erwachsenenalter als allgemein kritische Phase in der Entwicklung, Aufrechterhaltung und Manifestation von Civic Literacy erachtet wird, liegen empirische Belege bislang nur für Teilabschnitte vor. Längsschnittliche Studien mit kurzen Messintervallen über einen längeren Zeitraum, die neben der Kompetenzentwicklung auch die Betrachtung verschiedener Bedingungsfaktoren ermöglichen, fehlen noch weitgehend (für eine Übersicht vgl. Grob 2009; und Kuger und Gille 2020). Da Civic Literacy bei Jugendlichen, vor allem im Längsschnitt, noch wenig beforscht wurde, fehlten bisher auch standardisierte und vergleichbare Messinstrumente, die für den Einsatz in verschiedenen Altersstufen geeignet und verlinkt sind. Dies betrifft vor allem den hier vorgestellten Wissenstest.

Ein besonderes Desiderat für die zukünftige Kompetenzforschung zu Civic Literacy ist es, mehr über die Rolle der verschiedenen Sozialisationsinstanzen zu erfahren. Hierbei sind vor allem die Schule und der Politikunterricht, der familiäre Hintergrund sowie die Peers der interessierenden Schülerinnen und Schüler von Bedeutung. Eine besondere Herausforderung wird dabei sein, die verschiedenen schul- und bundeslandspezifischen Vorbedingungen (z. B. Umfang des Politikunterrichts, Integration in andere Fächer, fachfremder Unterricht) in angemessener Weise zu beachten und zu erfassen. Die genaue Betrachtung dieser Vorbedingungen und der verschiedenen Bedingungsfaktoren von Civic Literacy ist bedeutsam für den weiteren Erkenntnisgewinn.

Das hier skizzierte Rahmenmodell zur empirischen Erfassung von Civic Literacy mit seinen vier Kompetenzbereichen soll nach einer empirischen Erprobung zukünftig in Studien der politischen Kultur- und Sozialisationsforschung sowie der empirischen Bildungsforschung und der politischen Psychologie Anwendung finden. Hierzu gehört insbesondere das Nationale Bildungspanel (NEPS; Blossfeld und Roßbach 2019), für das Civic Literacy in den Kanon der zu erfassenden Kompetenzen in den Klassenstufen 7 und 10 aufgenommen wurde. Dadurch können zukünftig wichtige Erkenntnisse für die Erforschung und Praxis der (schulischen) politischen Bildung im Jugendlater gewonnen werden.