1 Einleitung

Der systematische Erwerb von Lesekompetenz auf Seiten der Schülerinnen und Schüler ist eine zentrale Aufgabe des Deutschunterrichts in der Grundschule, beginnend mit dem Erlernen des orthographischen Lesens bis hin zu komplexeren Lese- und Verständnisprozessen (Becker et al. 2014). Als fächerübergreifende Schlüsselkompetenz ist diese sowohl Bedingung als auch Ziel schulischer Lernprozesse (u. a. Schröter und Bar-Kochva 2019). Diagnose und Förderung von Lesekompetenz sind daher eine Kernaufgabe eines qualitätsvollen Leseunterrichts als Voraussetzung für erfolgreiche schulische Bildungsprozesse. Große Studien wie beispielsweise IGLU oder der IQB-Bildungstrend, die Lernenden bereits am Ende der Grundschule – einer für den weiteren Bildungsweg entscheidenden Schnittstelle – nicht ausreichende Lesekompetenzen bescheinigen, weisen jedoch auf Handlungsbedarf hin (u. a. Hußmann et al. 2017; Stanat et al. 2017). Vor diesem Hintergrund wurden deutschlandweit zahlreiche Initiativen zur Leseförderung von Kindern und Jugendlichen ins Leben gerufen. Der Mangel an systematischer Evaluation dieser Initiativen war die Ausgangsmotivation für die Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift“, die sich die wissenschaftliche Wirksamkeitsüberprüfung von Maßnahmen unter anderem im Bereich der Leseförderung zum Ziel gesetzt hat (Becker-Mrotzek et al. 2016).

Ein Prädiktor für Lesekompetenz ist insbesondere die intrinsische Lesemotivation. Lesemotivierte Kinder lesen lieber und mehr und häufig erreichen sie im Mittel höhere Lesekompetenzwerte als gering lesemotivierte Kinder (Schiefele et al. 2012). Während in der Grundschule überwiegend positive motivationale Voraussetzungen bei den Lernenden vorliegen, existieren zahlreiche empirische Hinweise auf ein Stagnieren bzw. eine Abnahme der intrinsischen Lesemotivation im Laufe der schulischen Bildungskarriere, beginnend bereits im Grundschulalter (u. a. Weidinger et al. 2015). Sowohl aufgrund ihres eigenständigen Wertes als auch aufgrund ihrer Zusammenhänge zur Lesekompetenz sind Förderung und Erhaltung intrinsischer Lesemotivation wichtige Ziele des Grundschulunterrichtes.

Zentrale Voraussetzung für eine positive Entwicklung motivationaler Schülermerkmale ist die Qualität des unterrichtlichen Lernangebotes (u. a. Seidel und Shavelson 2007). Effekte kognitiver Aktivierung, effizienter Klassenführung und unterstützenden Unterrichtsklimas auf multikriteriale Zielerreichung konnten in verschiedenen Schulstufen und Domänen – insbesondere im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich – empirisch nachgewiesen werden (u. a. Helmke 2015). Für den Bereich des Leseunterrichts hingegen ist die empirische Befundlage bislang weniger gut abgesichert (Lotz 2016). Ziel dieses Beitrages ist zum einen, Zusammenhänge schulischer BiSS-Teilnahme in ausgewählten Modulen zur Qualität des Leseunterrichts zu untersuchen und andererseits Zusammenhänge zwischen Unterrichtsqualitätsmerkmalen und intrinsischer Lesemotivation bei Schülerinnen und Schülern am Ende der Grundschulzeit zu analysieren.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Die Bund-Länder-Initiative „BiSS“

Vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung von Sprach- und Lesekompetenz für Bildungserfolg und gesellschaftliche Teilhabe initiierte unter anderem das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2012 die gemeinsame Bund-Länder-Initiative „BiSS“. Ausgelegt auf fünf Jahre, war das Ziel von BiSS die wissenschaftliche Überprüfung der Effektivität und Effizienz sowohl von innovativen als auch etablierten Methoden der Sprachförderung, Sprachdiagnostik und Leseförderung (Becker-Mrotzek et al. 2016). Bundesweit beteiligten sich über 100 Verbünde mit mehr als 600 Bildungseinrichtungen (Kindergärten, Schulen und weitere Partner) an BiSS, deren Aktivitäten im Bereich der Sprach- und Leseförderung in 15 inhaltlichen Modulen koordiniert wurden (McElvany et al. 2018). Der vorliegende Beitrag untersucht den Zusammenhang schulischer BiSS-Teilnahme und der Qualität des Leseunterrichts einerseits und intrinsischer Lesemotivation andererseits in vom Trägerkonsortium zur Evaluation ausgewählten Verbünden von Grundschulen, die in den Modulen P3 und P4 im Primarbereich arbeiteten. Ziel des Moduls P3 war die Steigerung der Leseflüssigkeit insbesondere bei schwach lesenden Schülerinnen und Schülern durch unterrichtsintegrierte und additive Maßnahmen zur Förderung des Wortschatzes, der phonologischen Bewusstheit und der basalen Lesekompetenz (Schneider et al. 2012). Modul P4 fokussierte auf die Förderung des Leseverständnisses ab Beginn der Klassenstufe drei unter anderem durch die Vermittlung angemessener Lesestrategien und baute damit auf Modul P3 auf (McElvany et al. 2018). Voraussetzung für die Teilnahme an der externen Evaluation war ein fortgeschrittener Entwicklungsstand der Förderkonzepte (BMBF 2014). Das bedeutet, dass die Grundschulen aus den Verbünden entweder seit längerer Zeit zusammenarbeiteten oder an Vorgängerprojekte anknüpften und konkrete Vorstellungen über Ausgestaltung und Umsetzung der Förderkonzepte hatten (Stufe II: Weiterentwicklung). Außerdem wurden Grundschulen aus Verbünden für die Evaluation ausgewählt, die sich in Stufe III, der Optimierung von Konzepten, befanden und die Ansätze entweder in Vorgängerprojekten untersucht oder mindestens in Teilen etabliert waren (McElvany et al. 2018). Ziele der Verbünde waren u. a. fächerübergreifende Leseförderung, Vermittlung von Lesestrategien und kooperativen Lernformen, Förderung der Lesemotivation oder des Wortschatzes (Trägerkonsortium BiSS-Transfer 2020). Die Implementation der Lesefördermaßnahmen wurde vorwiegend als bottom-up Prozess realisiert, in dem die einzelnen Schulen sich mit eigenen – neuen oder bereits implementierten – Leseförderkonzepten an BiSS beteiligtenFootnote 1.

Basierend auf Modellen der Implementationsforschung (u. a. Gräsel 2010) wird davon ausgegangen, dass Initiativen wie BiSS im Schulkontext Wirkungen auf die Qualität von Unterricht und darüber auch Effekte auf die gewünschten Outcomes – hier: intrinsische Lesemotivation von Schülerinnen und Schülern – haben. Slavin et al. (2009) analysierten in ihrer Metastudie die Wirksamkeit von Interventionen, die sich auf Instruktionsprozesse und professionelle Entwicklung bezogen. Sie berichten positive Effekte auf leistungsbezogene Schülermerkmale am Ende der Grundschulzeit. Moderate positive Effekte auf basale Lesekompetenzen konnten auch für niedrigschwellige Leseförderinterventionen für bestimmte Schülersubgruppen im Klassenkontext konnten gefunden werden (Wanzek et al. 2016). In Abgrenzung zu klassischen Interventionen, verfolgen die BiSS-Schulen keinen über Verbünde hinweg gemeinsamen Förderansatz, weswegen die Vergleichbarkeit mit den oben aufgeführten Studien eingeschränkt ist. Inwiefern sich die schulische Beteiligung an BiSS auf die Entwicklung des Leseunterrichtes und darüber mediiert auf intrinsische Lesemotivation auswirkt, ist bislang nicht untersucht.

2.2 Intrinsische Lesemotivation

Die Bedeutung motivationaler Orientierungen für Lernprozesse, schulisches Engagement und Kompetenzentwicklung ist intensiv in verschiedenen Domänen erforscht und empirisch nachgewiesen worden (u. a. Lazowski und Hulleman 2016). Lesemotivation spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, aufgrund der engen reziproken Zusammenhänge zu Lesekompetenz, die wiederum eine zentrale interdisziplinäre Schüsselkompetenz für schulischen Bildungserfolg ist (u. a. Schröter und Bar-Kochva 2019). In der (Pädagogischen) Psychologie werden unter anderem intrinsische und extrinsische Formen der Lesemotivation unterschieden (Deci und Ryan 2008; Ryan und Deci 2020; Schiefele et al. 2012). Die intrinsische Lesemotivation wird verstanden als die Motivation, um der Aktivität selbst willen zu lesen, da positive Erfahrungen mit dem Prozess des Lesens verbunden werden (Conradi et al. 2014). Damit grenzt sich diese Facette von der extrinsischen Motivation ab, bei der das Lesen durch äußere Faktoren wie beispielsweise das Vermeiden negativer Konsequenzen begründet ist (Ryan und Deci 2020; Schiefele et al. 2012). Typische Merkmale für intrinsische Lesemotivation sind beispielsweise Neugierde, eine positive Einschätzung der eigenen Lesekompetenz oder das Gefühl der kognitiven Einbezogenheit (Artelt und Dörfler 2010). Intrinsisch motivierte Schülerinnen und Schüler lesen häufiger sowohl in der Schule als auch in ihrer Freizeit (McGeown et al. 2016) und sind eher bestrebt, ihre Lesekompetenzen und Wissensbasis auszubauen (Wigfield et al. 2004). Insbesondere die intrinsische Lesemotivation weist weiterhin enge reziproke Zusammenhänge zur Lesekompetenz auf (Miyamoto et al. 2018; Hebbecker et al. 2019) und ist darum ein wichtiges Ziel des Leseunterrichts in der Grundschule. Gerichtete Zusammenhänge zwischen intrinsischer Lesemotivation und Lesekompetenz lassen sich beispielsweise über das Leseverhalten erklären. Häufiges Lesen steigert die Automatisierung von Leseprozessen und wirkt sich darüber hinaus auch auf Lesekompetenz aus (u. a. Stein und Endepohls-Ulpe 2019). Darüber hinaus lassen sich auch positive Effekte intrinsischer Lesemotivation auf weitere motivationale Merkmale, wie beispielsweise das Leseselbstkonzept nachweisen (Hellmich und Hoya 2014).

Nach übereinstimmenden Befunden ist die intrinsische Lesemotivation bei Schülerinnen und Schülern der Grundschule zunächst noch hoch ausgeprägt (Goy et al. 2017). Doch bereits gegen Ende der Grundschulzeit zeichnet sich ein Trend der abfallenden Motivation ab, der sich im weiteren Verlauf der schulischen Bildungskarriere fortsetzt (u. a. Schwabe et al. 2020, für lesebezogene Einstellungen [u. a. persönliche Gründe für das Lesen]: McKenna et al. 1995). Mögliche Faktoren für einen solchen „Motivationsknick“ sind zunehmende interpersonelle Vergleiche und leistungsbezogene Rückmeldungen (Artelt und Dörfler 2010).

Ein Ziel von Bildungsprozessen in der Grundschule ist daher die Förderung und Aufrechterhaltung intrinsischer Lesemotivation. Intrinsische Lesemotivation speist sich aus verschiedenen Quellen. So können einerseits textbezogene Merkmale dazu führen, intrinsisch motiviert zu lesen oder aber die Freude an der Tätigkeit selbst (Artelt und Dörfler 2010).

Artelt und Dörfler (2010) schlagen in ihrer Expertise zur Förderung der Lesekompetenz vor, externe und interne Leseanreize zu setzen, beispielsweise durch die Auswahl interessanter und vom Schwierigkeitsniveau her passender Texte oder die Schaffung leseförderlicher Strukturen, wie etwa Schulbibliotheken, die auch zum außerunterrichtlichen Lesen anregen. Durch die Herstellung situationalen Leseinteresses soll eine langfristige positive motivationale Disposition gefördert werden. Auf individueller Ebene können Maßnahmen in den Bereichen Wahrnehmung von Kompetenz, Selbstbestimmung und sozialer Eingebundenheit eingesetzt werden, um die intrinsische Freude am Lesen zu fördern (Schiefele 2014). Das Erleben der psychologischen Grundbedürfnisse nach Ryan und Deci (2020) unterstützt selbstbestimmtes Handeln und damit intrinsisch motivierte Aktivitäten. Damit bietet dieser Ansatz eine geeignete theoretische Fundierung für ein unterstützendes Lernklima im Klassenraum – einer Basisdimension von Unterrichtsqualität.

2.3 Qualität von Leseunterricht

Zahlreiche empirische Befunde, vorrangig im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, stützen die Bedeutung von Unterrichtsqualität für leistungsbezogene und auch motivationale Zielkriterien (u. a. Kyriakides et al. 2013; Seidel und Shavelson 2007). Allgemein zeichnet sich qualitätsvoller Unterricht durch eine kognitiv anregende, störungsarme und unterstützende Lernumgebung aus (u. a. Praetorius et al. 2020). Für die kognitive Aktivierung einer heterogenen Schülerschaft ist die Differenzierung des Lernangebotes ein wichtiger Aspekt der Unterrichtsqualität, um vor allem ein tiefgreifendes Verständnis von Lerninhalten zu ermöglichen und somit leistungsbezogene aber auch motivationale Lernziele zu erreichen (Klieme und Rakoczy 2008; Kyriakides et al. 2009). Differenzierte Lernangebote, zum Beispiel nach leistungsbezogenen Kriterien, ermöglichen es Schülerinnen und Schülern, sich ihren individuellen Voraussetzungen entsprechend mit dem Lerngegenstand auseinanderzusetzen und konzeptuelles Verständnis aufzubauen (Klieme und Rakoczy 2008; Vygotskiĭ et al. 1999). Für die Domäne Lesen konnten positive Effekte der Differenzierung auf Leseleistung identifiziert werden, keine Effekte zeigten sich hinsichtlich der Einstellungen zum Lesen (Little et al. 2014; Shaunessy-Dedrick et al. 2015). Als eine wesentliche Voraussetzung für inhaltliches Lernen gilt eine effiziente Klassenführung, welche die aktive Lernzeit maximiert und Störungen im Unterricht minimiert (u. a. Marzano et al. 2003; Syring 2017). Durch eine proaktive Klassenführung, in der zum Beispiel Regeln gemeinsam und transparent aufgestellt werden und deren Einhaltung konsequent eingefordert wird, können Unruhe und störendes Verhalten minimiert werden (Pianta und Hamre 2009). Die Vermeidung von Störungen zeigte positive Effekte sowohl auf leistungs- als auch verhaltensbezogene Zielkriterien (u. a. Seiz et al. 2016). Für die Lesemotivation konnte ein über mündliche Beteiligung mediierter negativer Effekt von Disziplinproblemen auf verschiedene motivationale Merkmale identifiziert werden (Arens et al. 2015). Insbesondere für motivationale Lernziele ist das Erleben psychologischer Grundbedürfnisse essenziell, die zu der Unterrichtsqualitätsdimension des unterstützenden Unterrichtsklimas beitragen (Klieme und Rakoczy 2008; Ryan und Deci 2020). Nach Ryan und Deci (2020) kommt dem Kompetenzerleben – dem Gefühl, Ziele effektiv erreichen zu können – eine große Bedeutung u. a. für die Entwicklung intrinsischer Motivation zu. Ein optimales Anforderungsniveau von Aufgaben und positives Feedback können zum Erleben von Kompetenz im Unterricht beitragen (Ryan und Deci 2020). Das zweite psychologische Grundbedürfnis ist das Autonomieerleben – das Gefühl der Freiwilligkeit des eigenen Handelns. Autonomiefördernder Unterricht bezieht die Lebenswelt, Interessen und Lernstrategien der Schülerinnen und Schüler mit ein und bietet Wahlmöglichkeiten (Ryan und Deci 2020). Die dritte Komponente der Selbstbestimmungstheorie ist das Erleben sozialer Eingebundenheit – das Gefühl, für andere Personen im eigenen Umfeld eine Bedeutung zu haben. Persönliche Anteilnahme der Lehrkraft oder das Fördern persönlicher Beziehungen innerhalb der Klassengemeinschaft schaffen ein Lernklima, in dem sich Schülerinnen und Schüler zugehörig fühlen (Ryan und Deci 2020). Die drei genannten psychologischen Grundbedürfnisse tragen zur autonomen Selbstregulation von Lernenden bei, die wiederum Zusammenhänge zu tiefergehendem Verständnis von Lerninhalten, intrinsisch motivierten Lernhandlungen und weiteren emotional-motivationalen Faktoren aufweist (Ryan und Deci 2000). Über mastery-goals mediierte Effekte hinaus konnten auch direkte Effekte des Erlebens der psychologischen Grundbedürfnisse auf motivationale Outcomes empirisch festgestellt werden (z. B. instrinsische Motivation: Niemiec und Ryan 2009). Bisherige Befunde zum Leseunterricht zeigen heterogene Befunde für die Dimension der kognitiven Aktivierung. Während in der Videostudie von Lotz (2016) festgestellt wurde, dass die Qualität von Differenzierung im Leseunterricht Optimierungspotenzial hat, so wurde kognitive Aktivierung allgemein in der letzten IGLU Studie positiv von Lernenden eingeschätzt (Stahns et al. 2017). Während Klassenführung und Unterrichtsklima überwiegend positiv eingeschätzt wurden (Lotz 2016), zeigten die Ergebnisse aus IGLU 2016, dass die Schülerinnen und Schüler den Deutschunterricht als wenig strukturiert wahrnehmen (Stahns et al. 2017).

3 Fragestellungen und Hypothesen

Vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung der Förderung von Lesekompetenz im schulischen Kontext zielt die vorliegende Studie darauf ab, Zusammenhänge der schulischen Teilnahme an BiSS zur Qualität des Leseunterrichts zu untersuchen und weitergehend Zusammenhänge zwischen Merkmalen der Unterrichtsqualität und intrinsischer Lesemotivation zu analysieren. Folgende Forschungsfragen (FF) sind dabei leitend:

Steht die schulische BiSS-Teilnahme in Zusammenhang mit der Entwicklung der Qualität des Leseunterrichts hinsichtlich Differenzierung (FF1a), Störungen im Unterricht (FF1b) und dem Erleben psychologischer Grundbedürfnisse (FF1c) unter Kontrolle der Ausgangsbedingungen zum Beginn der vierten Klasse und relevanter demographischer Merkmale von Schülerinnen und Schülern?

Vor dem Hintergrund der angenommenen Wirkungskette von Interventionen auf Unterricht wird ein positiver Zusammenhang der schulischen BiSS-Teilnahme insbesondere zur Entwicklung des fachspezifischen Unterrichtsqualitätsmerkmals Differenzierung erwartet (Hypothese H1a). Die teilnehmenden Schulen fokussierten unter anderem auf die Förderung von Leseflüssigkeit und Leseverständnis der gesamten Schülerschaft. Es ist daher anzunehmen, dass sich diese Ziele in der Gestaltung eines adaptiven, differenzierten Lernangebotes widerspiegeln. Störungen im Unterricht sind als Indikator für eine nicht effektive Klassenführung ein nicht fachspezifisches Merkmal von Unterricht. Da in den in dieser Studie untersuchten BiSS-Modulen keine explizite Förderung pädagogischen Professionswissens bzw. keine Optimierung der Klassenführung als Ziel gesetzt wurde, wird kein Zusammenhang der schulischen BiSS-Teilnahme und der Entwicklung von Störungen im Unterricht erwartet (Hypothese H1b). Es ist anzunehmen, dass die Lehrkräfte, durch die Teilnahme an BiSS sensibilisiert für die Förderung von Lesekompetenz, ein motivationsförderliches Lernklima im Leseunterricht anstreben. Vor dem Hintergrund der motivationsförderlichen Wirkung der psychologischen Grundbedürfnisse werden daher positive Zusammenhänge der schulischen BiSS-Teilnahme auf die Entwicklung des schülerseitigen Erlebens psychologischer Grundbedürfnisse erwartet (Hypothese H1c).

Welche Zusammenhänge lassen sich zwischen Differenzierung (FF2a), Störungen im Unterricht (FF2b) und dem Erleben psychologischer Grundbedürfnisse (FF2c) zu Beginn und Ende der vierten Klasse und der Entwicklung von intrinsischer Lesemotivation identifizieren und gibt es einen über Unterrichtsqualität mediierten Effekt schulischer BiSS-Teilnahme auf die Entwicklung intrinsischer Lesemotivation (FF2d)?

Für die Differenzierung wird aufgrund der Passung von Schwierigkeiten der Lernaufgaben und Fähigkeiten der Lernenden ein positiver Zusammenhang zur Entwicklung der intrinsischen Lesemotivation angenommen (Hypothese H2a). Da Störungen im Unterricht vom Lerngegenstand ablenken und die Konzentration der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigen, wird hier ein negativer Zusammenhang mit der Entwicklung intrinsischer Lesemotivation vermutet (Hypothese H2b). Aufgrund der motivationsförderlichen Effekte der psychologischen Grundbedürfnisse wird auch in der Domäne Lesen ein positiver Zusammenhang mit der Entwicklung der intrinsischen Lesemotivation angenommen (Hypothese H2c). Darüber hinaus wird aufgrund der angenommenen Wirkzusammenhänge bei Interventionen ein Mediationseffekt schulischer BiSS-Teilnahme erwartet (Hypothese H2d).

4 Methode

4.1 Stichprobe und Design

Die Datengrundlage stammt aus dem vom BMBF geförderten Verbundprojekt „Evaluation von Konzepten und Maßnahmen der fachübergreifenden Leseförderung im Primarbereich“ (BiSS-EvalLesen). An der freiwilligen, quasi-experimentellen Längsschnittstudie im Schuljahr 2016/17 beteiligten sich N = 37 BiSS-Klassen (aus N = 22 SchulenFootnote 2; Treatmentgruppe, TG) sowie N = 22 Klassen (aus N = 13 Schulen) ohne strukturiertes Leseförderprogramm (Kontrollgruppe, KG). Das Einverständnis der Erziehungsberechtigen war Voraussetzung für die Studienteilnahme der Schülerinnen und Schüler. Daten wurden zu Beginn des vierten Schuljahres im Herbst 2016 (Messzeitpunkt, MZP I) und am Ende des Schuljahres im Sommer 2017 (MZP II) erhoben. Die Stichprobe bestand aus N = 1032 Schülerinnen und Schülern der vierten Klassenstufe. In die Analysen wurden diejenigen Klassen aufgenommen, bei denen an der Erhebung mindestens die Hälfte aller Kinder und nicht weniger als zehn Kinder teilgenommen hatten. Die Stichprobenkennwerte und Anteile fehlender Werte sind in Tab. 1 aufgeführt.

Tab. 1 Stichprobenkennwerte und Anteil fehlender Werte

Der Migrationshintergrund wurde über die zu Hause gesprochene Sprache erfasst. Als Maß für den sozioökonomischen Hintergrund wurde der Highest International Socio-Economic Index of Occupational Status (HISEI, Ganzeboom, Harry B.G. et al. 1992) herangezogen. Die numerische Teilskala des KFT 4‑12R (Heller und Perleth 2000) wurde als Indikator für die kognitiven Grundfähigkeiten eingesetzt (Cronbachs Alpha = 0,81).

4.2 Umsetzung von BiSS in den Schulen

Ergebnisse der Eingangsbefragung im Frühjahr 2016 an 40 Schulen (Daten von 30 Schulleitungen und 10 Lehrkräften) zeigten, dass die Hauptausgangsmotivation der Schulen, die im Mittel seit 36 Monaten an BiSS arbeiteten (Teerling et al. 2019) und teilweise seit Klassenstufe drei BiSS-Ziele verfolgten (Schwabe et al. 2020), die Förderung von Lesekompetenz aller Schülerinnen und Schüler war, mit Fokus insbesondere auf die Verbesserung des Leseverständnisses (McElvany et al. 2018). Die Analyse von Schulprogrammen, BiSS-Förderprogrammen und weiteren leseförderbezogenen Dokumenten, die von 32 Schulen vorlagen, ergab, dass das (Laut‑)Lesetandem in knapp der Hälfte der Schulen fest etabliert war (McElvany et al. 2018). In Dyaden verfolgt ein stärker lesendes Kind den Leseprozess eines schwächer lesenden Kindes und macht auf Fehler aufmerksam bzw. lobt bei erfolgreicher Selbstverbesserung (Munser-Kiefer 2012). Als zweithäufigstes Instrument wurde der Stolperwörter-Lesetest zur Lesediagnostik genannt (Metze 2009), bei dem aus vorgegebenen Sätzen ein nicht zugehöriges Wort identifiziert werden muss, was neben dem Erlesen von Einzelwörtern einen Abgleich mit den grammatischen, syntaktischen und semantischen Lexika erfordert (Metze 2009). Hinsichtlich der organisatorischen Implementation zeigte sich, dass die Initiative zur Beteiligung an BiSS in mehr als 50 % aller Fälle von der Schulleitung ausging. Die schulinterne Koordination des BiSS-Programms lag in 78,1 % der Schulen bei der Schulleitung oder der stellvertretenden Schulleitung, wobei an mehr als der Hälfte der Schulen auch ein BiSS-spezifisches Gremium aus Lehrkräften und pädagogisch tätigem Personal mit der Organisation des Programms betraut wurde (McElvany et al. 2018).

4.3 Instrumente

Die Skala intrinsische Lesemotivation umfasste vier Items (Beispiel: „Ich lese gerne.“; Quelle: McElvany et al. 2009) und erreichte in beiden Gruppen zu beiden MZP hohe Reliabilitäten (0,86 < Cronbachs Alpha < 0,91). Die Skalen zur Erfassung der Unterrichtsqualitätsmerkmale wurden im Schülerfragebogen zu beiden MZP administriert. Die Items wurden jeweils über eine vierstufige Likert-Skala von 1 = „stimmt gar nicht“ bis 4 = „stimmt genau“ beantwortet. Differenzierung im Leseunterricht wurde über drei Items erfasst (Beispiel: „Unsere Lehrerin/unser Lehrer gibt den Schülerinnen und Schülern unterschiedliche Aufgaben, je nach ihrem Können.“; Quelle: Ditton 2001), Störungen im Unterricht über vier Items (Beispiel: „Im Deutschunterricht wird der Unterricht oft sehr gestört.“; Quelle: Ramm et al. 2006), Kompetenzerleben über fünf Items (Beispiel: „Im Deutschunterricht hatte ich das Gefühl, schon viel bei meiner Lehrerin/meinem Lehrer gelernt zu haben.“; Quelle: adaptiert nach Kunter 2005), Autonomieerleben mit drei Items (Beispiel: „Meine Lehrerin/mein Lehrer hörte sich an, auf welche Weise ich etwas gerne machen würde.“; Quelle: Kunter 2005) und Erleben sozialer Eingebundenheit mit fünf Items (Beispiel: „Im Deutschunterricht förderte meine Lehrerin/mein Lehrer, dass ich mich zugehörig fühle.“; Quelle: Kunter 2005). Alle Skalen erreichten zu beiden MZP in beiden Gruppen ausreichende bis gute Reliabilitäten (0,63 < Cronbachs Alpha < 0,89), bis auf die Skala Autonomieerleben, die daraufhin von den weiteren Analysen ausgeschlossen wurde.

4.4 Analysestrategie

Deskriptive Analysen zur Bestimmung der internen Konsistenz der verwendeten Skalen wurden mit SPSS 26 (IBM Corp. 1989–2019) durchgeführt. Aufgrund des Anteils fehlender Werte in den Skalen zur Unterrichtsqualität (zwischen 12.3 % bei Störungen im Unterricht MZP I BiSS-Gruppe und 25.0 % bei Störungen im Unterricht MZP II Kontrollgruppe), die bis auf die Skala Differenzierung „completely at random“ waren (Enders 2010), wurde eine multiple hierarchische Imputation der fehlenden Werte in R durchgeführt (van Buuren und Groothuis-Oudshoorn 2011; Robitzsch et al. 2019). Die Intraklassenkorrelationen der abhängigen Variablen erforderten die Berücksichtigung der Datenclusterung nach Klassen (ICCintrinsische Lesemotivation MZP I = 0,07, ICCintrinsische Lesemotivation MZP II = 0,09; Geiser 2011). Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden Mehrebenenmodelle in MPlus 8 (Muthén und Muthén 1998–2018) mit Gleichsetzung der Parameter der Messmodelle zu beiden Messzeitpunkten und auf beiden Ebenen spezifiziert. Auf Individualebene wurden Alter zu MZP I, Geschlecht (0 = männlich, 1 = weiblich), sprachlicher Migrationshintergrund (dichotomisiert: 0 = spricht nur Deutsch zu Hause, 1 = spricht Deutsch und eine andere Sprache zu Hause oder spricht nur eine andere Sprache zu Hause), sonderpädagogischer Förderbedarf (SFB; 0 = kein SFB; 1 = mit SFB), HISEI und kognitive Fähigkeiten (Subskala numerische Fähigkeiten zu MZP I) als Prädiktorvariablen sowohl für die jeweiligen Unterrichtsqualitätsmerkmale zu beiden MZP sowie für die intrinsische Lesemotivation zu beiden MZP spezifiziert. Auf Klassenebene wurden direkte und indirekte Effekte der schulischen BiSS-Teilnahme auf Unterrichtsqualitätsmerkmale (auf Klassenebene aggregiert) und intrinsische Lesemotivation analysiert. In den Abbildungen zu Ergebnissen der Mehrebenenstrukturgleichungsmodelle (Abb. 1, 2 und 3) werden auch Pfade berichtet, die bei Wahl eines Alpha-Fehlers von p < 0,1 aufgrund der relativ kleinen Anzahl von Klassen signifikant wurden. Unterrichtsqualitätsmerkmale und intrinsische Lesemotivation wurden in allen Analysen latent modelliert.

Abb. 1
figure 1

Zusammenhänge zwischen Differenzierung im Unterricht und Lesemotivation. Anmerkung. MIG sprachlicher Migrationshintergrund, SFB Sonderpädagogischer Förderbedarf, KFT kognitive Fähigkeiten; * p < 0,05; + p < 0,10; χ2 = 427,13 (df = 232); CFI = 0,97; RMSEA = 0,03; SRMRwithin = 0,03; SRMRbetween = 0,12; standardisierte Koeffizienten

5 Ergebnisse

5.1 Deskriptive Befunde

Die in Tab. 2 dargestellten deskriptiven Ergebnisse zeigten insbesondere bei dem Erleben von Kompetenz und sozialer Eingebundenheit sowie bei der intrinsischen Lesemotivation positive Ausprägungen, wobei sich hier bereits numerisch Unterschiede zwischen BiSS- und Kontrollgruppe andeuteten. Störungen im Unterricht wurden eher weniger berichtet ebenso wie Differenzierungsmaßnahmen im Unterricht.

Tab. 2 Mittelwerte, Standardabweichungen und Anteil fehlender Werte der erfassten Konstrukte

5.2 Effekte schulischer BiSS-Teilnahme auf Unterrichtsqualität

Vor dem Hintergrund der angenommenen Wirkungskette von Interventionen auf Unterricht und motivationale Merkmale von Schülerinnen und Schülern (Abb. 1) wurde ein positiver Zusammenhang zwischen schulischer BiSS-Teilnahme und der Entwicklung der Differenzierung angenommen (H1a). Die Ergebnisse der Mehrebenenmodelle, die in Tab. 3 dargestellt sind, zeigten, dass bereits zu MZP I Unterschiede zwischen BiSS- und Kontrollklassen in der Differenzierung im Leseunterricht vorlagen. Zu Beginn der vierten Klasse wurde also in den BiSS-Klassen weniger leistungsbezogen hinsichtlich Aufgabenstellungen oder Gruppenzusammensetzung differenziert, als in den Schulen ohne strukturiertes Leseförderprogramm. Der negative Zusammenhang schulischer BiSS-Teilnahme zur mittleren Differenzierung im Unterricht zeigte sich zum zweiten Messzeitpunkt am Ende der vierten Klasse nicht mehr. Für die Entwicklung der Differenzierung im Leseunterricht konnte sogar ein auf dem 10 %-Niveau signifikanter positiver Zusammenhang zur schulischen BiSS-Teilnahme festgestellt werden. Im Laufe der vierten Klassenstufe gelang es den BiSS-Klassen häufiger, differenzierte Lernangebote und nach Leistung zusammengestellte Lerngruppen einzusetzen als den Kontrollklassen. Der stärkste Prädiktor für die Differenzierung zu MZP II auf Individualebene war das Ausgangsniveau zu MZP I. Hypothese H1a wird also von den Daten gestützt.

Tab. 3 Standardisierte Koeffizienten der Strukturgleichungsmodelle zu FF1: Effekte schulischer BiSS-Teilnahme auf Unterrichtsqualität

Bei dem Merkmal Störungen im Unterricht konnten zu keinem Messzeitpunkt Unterschiede zwischen BiSS- und Kontrollklassen identifiziert werden, was die Hypothese H1b, dass keine Zusammenhänge zwischen schulischer BiSS-Teilnahme und der Entwicklung der Störungen im Leseunterricht erwartet werden, stützt. Auf Individualebene erwies sich neben der Ausgangslage zu Beginn der vierten Klasse der sozioökonomische Hintergrund der Lernenden als Prädiktor für die Störungen im Unterricht.

Im Kompetenzerleben und auf 10 %-Niveau auch in der sozialen Eingebundenheit lagen zu MZP I Unterschiede zuungunsten der BiSS-Klassen vor, jedoch nicht mehr am Ende des Schuljahres. Schülerinnen und Schüler in BiSS-Klassen hatten zu Beginn der vierten Klassenstufe weniger häufig das Gefühl, schon viel gelernt zu haben oder auch schwierige Leseaufgaben lösen zu können als Kinder in Klassen ohne strukturiertes Leseförderprogramm. Auf Individualebene zeigte sich, dass Mädchen ein höheres Kompetenzerleben hatten als Jungen und der HISEI positiv mit dem Kompetenzerleben zusammenhing. Bei der sozialen Eingebundenheit zeigte sich nur am Ende des vierten Schuljahres ein positiver Zusammenhang des Alters und des Erlebens von Zugehörigkeit im Klassenkontext. Die Hypothese H1c, die positive Zusammenhänge zwischen schulischer BiSS-Teilnahme und dem Erleben psychologischer Grundbedürfnisse konstatierte, muss daher verworfen werden.

5.3 Zusammenhänge von Unterrichtsqualität und intrinsischer Lesemotivation

Des Weiteren wurde angenommen, dass die hier erfassten Merkmale von Unterrichtsqualität – unter Kontrolle der Ausgangsbedingungen zu Beginn der vierten Klasse und relevanter demographischer Merkmale von Schülerinnen und Schülern – positive Effekte auf die Entwicklung von intrinsischer Lesemotivation aufweisen.

Hinsichtlich der Differenzierung zeigte sich auf Klassenebene kein statistisch bedeutsamer Zusammenhang zur Entwicklung der intrinsischen Lesemotivation (Abb. 1). Auf Individualebene zeigte sich zum ersten Messzeitpunkt ein kleiner positiver Zusammenhang zwischen der Differenzierung im Leseunterricht und der intrinsischen Lesemotivation.

Das heißt, Schülerinnen und Schüler, die je nach Leistungsvermögen unterschiedliche Aufgaben zugeteilt bekamen oder in nach Leistung zusammengestellten Gruppen arbeiteten, wiesen zu Beginn der vierten Klassenstufe eine höhere intrinsische Lesemotivation auf. Zu MZP I konnten auf Individualebene über demographische Schülermerkmale, die Ausgangslage zu MZP I und die Differenzierung 10 % der Varianz in der intrinsischen Lesemotivation aufgeklärt werden. Hypothese H2a, die Zusammenhänge zwischen leistungsbezogener Differenzierung im Leseunterricht und der intrinsischen Lesemotivation annahm, kann somit teilweise bestätigt werden.

Für das Merkmal Störungen im Unterricht wurden zu keinem der beiden Messzeitpunkte statistisch bedeutsame Zusammenhänge mit der intrinsischen Lesemotivation gefunden, weder auf Individual- noch auf Klassenebene. Hypothese H2b muss daher verworfen werden.

Beim Kompetenzerleben zeigten sich ausschließlich auf Individualebene positive Zusammenhänge mit der intrinsischen Lesemotivation zu beiden Messzeitpunkten (Abb. 2). Dies bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler, die das Gefühl haben, im Deutschunterricht schon viel gelernt zu haben oder von der Lehrkraft das Gefühl vermittelt bekommen, auch schwierige Leseaufgaben lösen zu können, stärker intrinsisch motiviert waren zu lesen. Zum Ende der vierten Klasse wurden über demographische Schülermerkmale, die Ausgangssituation zu MZP I und das Kompetenzerleben 41 % der Varianz in der intrinsischen Lesemotivation aufgeklärt.

Abb. 2
figure 2

Zusammenhänge zwischen Kompetenzerleben im Unterricht und Lesemotivation Anmerkung. MIG sprachlicher Migrationshintergrund, SFB Sonderpädagogischer Förderbedarf, KFT kognitive Fähigkeiten; * p < 0,05; + p < 0,10; χ2 = 620,98 (df = 382); CFI = 0,97; RMSEA = 0,03; SRMRwithin = 0,03; SRMRbetween = 0,18; standardisierte Koeffizienten

Ähnliche Ergebnisse zeigten sich für das Erleben sozialer Eingebundenheit (Abb. 3). Auf Individualebene war die soziale Eingebundenheit ein positiver Prädiktor für intrinsische Lesemotivation zu beiden Messzeitpunkten. Kinder, bei denen die Lehrkraft auf Akzeptanz und Zugehörigkeitsgefühl in der Klasse achtet, lesen lieber aus eigenem Antrieb und zum Vergnügen. Ähnlich wie beim Kompetenzerleben wurden 39 % der Varianz in der intrinsischen Lesemotivation durch die Ausgangslage zu MZP I, demographische Schülermerkmale und das Erleben sozialer Eingebundenheit in der Klasse erklärt.

Abb. 3
figure 3

Zusammenhänge zwischen dem Erleben sozialer Eingebundenheit im Unterricht und Lesemotivation. Anmerkung. MIG sprachlicher Migrationshintergrund, SFB Sonderpädagogischer Förderbedarf, KFT kognitive Fähigkeiten; * p < 0,05; + p < 0,10; χ2 = 406,96 (df = 232); CFI = 0,97; RMSEA = 0,03; SRMRwithin = 0,03; SRMRbetween = 0,16; standardisierte Koeffizienteny

Hypothese H2c wird daher teilweise von den Daten gestützt. In keinem Modell ließ sich ein über Unterrichtsqualität mediierter BiSS-Effekt auf die mittlere intrinsische Lesemotivation auf Klassenebene feststellenFootnote 3. Hypothese H2d muss daher verworfen werden.

6 Diskussion

Vor dem Hintergrund der zentralen Bedeutung von Lesekompetenz für Bildungserfolg, Bildungsbeteiligung und gesellschaftliche Teilhabe wurde die Bund-Länder-Initiative Bildung durch Sprache und Schrift – kurz: BiSS initiiert. In dem vorliegenden Beitrag werden zunächst Zusammenhänge schulischer BiSS-Teilnahme mit der Qualität des Leseunterrichts und intrinsischer Lesemotivation analysiert. Anschließend wird ein Mediationseffekt der Unterrichtsqualität untersucht. Im Rahmen der Studie wurden Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler aus Klassen, die sich den Schwerpunkten Diagnose und Förderung von Leseflüssigkeit und Leseverständnis widmeten, mit Klassen ohne strukturiertes Leseförderprogramm verglichen.

6.1 Interpretation und Einordnung der Befunde

Dem theoretischen Wirkmodell von BiSS folgend wurden zunächst Zusammenhänge schulischer BiSS-Teilnahme zur Entwicklung des Leseunterrichts in der vierten Klasse untersucht. Hier zeigte sich unter Kontrolle der Ausgangsbedingungen zu Beginn der vierten Klasse und relevanter Schülermerkmale ein kleiner positiver BiSS-Effekt auf die leistungsbezogene Differenzierung als Merkmal der kognitiven Aktivierung im Leseunterricht. Vor dem Hintergrund, dass die Hauptmotivation der Schulen für die Beteiligung an BiSS die Förderung von Leseverständnis und Leseflüssigkeit aller Schülerinnen und Schüler war, ist dieser Befund besonders erfreulich. Durch differenzierte Lernangebote im Leseunterricht können sowohl stark als auch schwach Lesende gefördert werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Lehrkräfte durch die Beteiligung an BiSS stärker für leistungsdifferente Förderung sensibilisiert sind und entsprechende Maßnahmen in ihrem Unterricht einsetzen. Für das Erleben von Kompetenz und sozialer Eingebundenheit als Aspekte des unterstützenden Unterrichtsklimas zeigten sich zu Beginn der vierten Klassenstufe statistisch bedeutsame Unterschiede zwischen BiSS- und Kontrollklassen, zuungunsten der BiSS-Klassen. Dies deckt sich mit dem Befund, dass keine oder sogar kleine negative Effekte schulischer BiSS-Teilnahme auf das Leseselbstkonzept von Schülerinnen und Schülern gefunden wurden (Schwabe et al. 2020). Darüber hinaus konnte kein BiSS Effekt auf diese beiden Merkmale des Leseunterrichts identifiziert werden. Insgesamt stehen die hier gefunden eher kleinen positiven bzw. negativen Effekte der Teilnahme an BiSS im Einklang mit bisherigen Untersuchungen zur Wirksamkeit schulischer Leseförderprogramme im deutschsprachigen Raum, die ebenfalls kleine oder ausbleibende Effekte zeigten (Philipp und Souvignier 2016). Ein Charakteristikum der BiSS-Initiative ist der vorrangige bottom-up-Ansatz, bei dem die Schulen eigene und dadurch sehr heterogene Maßnahmen der Leseförderung und -diagnostik umsetzen. Es ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht möglich, die potenzielle Wirkung einzelner Maßnahmen auf Unterricht und Lesemotivation zu identifizieren; ein Vergleich von Verbünden oder Konzepten war nicht zulässig. Die hier berichteten „Nulleffekte“ könnten auch auf die Vielfalt der Ansätze zurückzuführen sein. Insgesamt wurde über alle Schulen hinweg in knapp der Hälfte das Lautlesetandem als Instrument zur Leseförderung eingesetzt und das am zweithäufigsten genutzte Instrument war der Stolperwörter-Lesetest zur Lesediagnostik. Dieser Befund kann als Hinweis auf das Optimierungspotenzial der systematischen Leseförderung gedeutet werden.

Die Mehrebenenanalysen zeigten keine Zusammenhänge zwischen Unterrichtsqualität und mittlerer intrinsischer Lesemotivation auf Klassenebene und daher auch keine indirekten Effekte schulischer BiSS-Teilnahme. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die intrinsische Lesemotivation zu MZPI ein sehr starker Prädiktor für die Motivation zu MZP II ist und damit bereits einen Großteil der Varianz aufklärt. Außerdem weisen die Intraklassenkorrelationen auf stabile Motivationsunterschiede zwischen den Klassen hin. Auf Individualebene zeigte sich erwartungskonform ein positiver Zusammenhang der Differenzierung im Leseunterricht und der intrinsischen Lesemotivation auf Individualebene. Durch ein adaptives Lernangebot kann unter anderem Über- oder Unterforderungslangeweile vermieden werden, die zu geringerem Interesse am Lerngegenstand führen können (Sparfeld 2011). Außerdem könnte durch eine gute Passung zwischen der Schwierigkeit des Lernmaterials und der Fähigkeiten der Lernenden das Kompetenzerleben gefördert werden, welches wiederum als Voraussetzung für intrinsische Motivation gilt (Ryan und Deci 2020). Dies deckt sich mit dem Befund, dass das Kompetenzerleben in dieser Studie auf Individualebene positive gerichtete Zusammenhänge zur intrinsischen Lesemotivation zu beiden Messzeitpunkten aufwies. Positives Feedback seitens der Lehrkräfte beispielsweise, als Möglichkeit Kompetenzerleben zu ermöglichen, kann sich positiv auf die intrinsische Lesemotivation auswirken (Hellmich und Hoya 2017). Ein analoges Muster zeigte sich für das Erleben sozialer Eingebundenheit. Diese Ergebnisse unterstützen daher die Bedeutung der psychologischen Grundbedürfnisse für intrinsische Motivation auch in der Domäne Lesen.

6.2 Limitationen und Schlussfolgerung

Einschränkend ist anzumerken, dass im Rahmen dieser Studie lediglich eine vom BiSS-Konsortium getroffene Auswahl an Schulen beziehungsweise Klassen evaluiert wurde. Darüber hinaus arbeiteten die Schulen bereits längere Zeit in BiSS, so dass keine Baseline-Messung erfolgen konnte, was für die Untersuchung der Entwicklung von Unterrichtsqualität und intrinsischer Lesemotivation im Rahmen der BiSS-Teilnahme ungünstig ist. Die Konzeption der Initiative als bottom-up organisierte Implementation der Leseförderung stellt eine weitere Einschränkung aufgrund der Heterogenität der an den Schulen realisierten Fördermaßnahmen dar. Außerdem zielen die in der Studie eingesetzten Skalen auf den gesamten Deutschunterricht ab, in dem Lesen bzw. Leseunterricht eine Facette darstellt. Instrumente, die gezielt die Leseanteile im Deutschunterricht fokussieren, könnten noch spezifischere Befunde ermöglichen.

Eine Perspektive für zukünftige Forschung wäre zunächst die evaluative Begleitung innovativer Konzepte zur Leseförderung von Beginn an, um mögliche Effekte identifizieren und einordnen zu können. In dem vorliegenden Beitrag wurde die Ebene der Lehrkräfte, als Gestalterinnen und Gestalter von Unterricht, nicht betrachtet. Wie eingangs bereits erwähnt ist die Akzeptanz von Innovationen innerhalb eines Schulkollegiums ein wichtiger Gelingensfaktor. Mögliche Mediationseffekte sollten in zukünftigen Analysen untersucht werden. Insgesamt leistet der vorliegende Artikel dennoch einen Beitrag zur Evaluation breit angelegter Lesefördermaßnahmen einerseits und zur Analyse von Zusammenhängen zwischen Unterrichtsqualität und motivationalen Lernoutcomes in der Domäne Lesen andererseits. Hinsichtlich des Studiendesigns empfiehlt die vorliegende Untersuchung eine möglichst frühe Begleitung der zu evaluierenden Initiativen, um eine Baselinemessung zu ermöglichen. Außerdem zeigt die Studie Herausforderungen heterogener Maßnahmenlandschaften für summative Evaluationen auf. Einheitlichere Förderansätze im Rahmen einer Initiative wie BiSS könnten unter Umständen zu messbaren Effekten führen. Bezüglich der Bedeutung von Unterrichtsqualität für Lernoutcomes untermauert die vorliegende Studie Befunde aus mathematisch-naturwissenschaftlichen Domänen und konnte hier insbesondere auf der Individualebene Effekte von kognitiver Aktivierung, effizienter Klassenführung und unterstützendem Unterrichtsklima auf intrinsische Lesemotivation zeigen. Der lediglich auf Individualebene gefundene positive Effekt leistungsbezogener Differenzierung auf intrinsische Lesemotivation unterstreicht das förderliche Potenzial individualisierten adaptiven Lernens. Die Befunde zu Effekten des Erlebens von Kompetenz und sozialer Eingebundenheit auf intrinsische Lesemotivation unterstützen die Bedeutung eines lernförderlichen Klassenklimas.