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Die Prosop-Agnosie

Die Agnosie des Physiognomieerkennens

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Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Faßt manzum Schluß die Merkmale, die das Wesen der Prosopagnosie ausmachen, zusammen, so läßt sich sagen: Sie ist die Agnosie für das Erkennen von Gesichtern und Ausdrucksphänomen überhaupt. Bei ungestörter Perzeption der Formteile von Physiognomien bleibt der Erkenntnisvorgang aus oder kommt, wie wir das auch von anderen Agnosien kennen, nur unvollkommen zustande. Wie es nun zum Wesen der Agnosie gehört, sich auf eine optische Kategorie zu beschränken, so die Prosopagnosie elektiv auf Gesichter. Nicht bloß die Tatsache der Prosopagnosie selbst, sondern auch gewisse Beobachtungen (Flimmeranfälle, cerebrale Metamorphopsien für Gesichter) weisen darauf hin, daß sie die Störung einer eigentümlichen optischen Kategorie ist, die sowohl das Physiognomiesehen, wie das Physiognomieerkennen umfaßt und der im Aufbau der Wahrnehmungswelt ein ganz bestimmter Platz zukommt. Es handelt sich hier prinzipiell um den gleichen Vorgang wie bei den übrigen Kategorien für Objekte, Sinnzusammenhänge, Farben, symbolische Zeichen usw., in deren Störungsformen die ihnen zugrunde liegenden optischen Sonderkategorien zum Ausdruck kommen. Daß die Agnosie als klinisches Phänomen in solche kategorialen Einzelformen auseinanderfällt, wird gewöhnlich einfach hingenommen, ist aber im Grunde tief rätselhaft, und mit der Annahme von gestörten Sonderapparaten im Gehirn so wenig erklärt, wie durch die Theorie der Gestaltspsychologie, daß in aller Agnosie die Störung der Erfassung der Gestalt es sei, die die Agnosie bedinge.

Die Bearbeitung der Frage, ob die in den Agnosien erscheinenden optischen Sonderkategorien nur durch Zufall vereint auftreten, oder eine innere Hierarchie erkennen lassen, steht noch in den Anfängen. Ein erster Anhaltspunkt läßt sich gewinnen durch unseren Nachweis, daß die Prosopagnosie Storungsförm einer optischen Kategorie sein muß, in der die ursprünglichste genetisch früheste Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktion sich präsentiert. Im Störungstyp der Prosopagnosie sehen wir eine Regression auf diese früheste optische Umwelterfassungsstufe, eine Grund- und Urfunktion der Sehwelt überhaupt. In einzelnen Merkmalen der Agnosie, „Radikalen“ gleichsam, vermögen wir noch die, diese Grundkategorie ursprünglich konstituierenden Elemente, wenn auch in verzerrter Form zu erkennen: In der „Ocula“ das primäre Wahrnehmungsfeld, in der Faszination durch das mitmenschliche Auge den frühesten optischen Erlebnisakt, in der Störung der eigenen Ausdrucksfähigkeit den durchgehenden Seinsbezug dieser optischen Kategorie und in dem konstanten Ausfall der optischen Merkfähigkeit für Gesichter das zeitliche Vorausgehen des Ausdruckserkennens vor dem Objektsehen.

Bezüglich der Frage der chronogenen Engraphierung (v. Monakow) der optischen Kategorien im Laufe der Entwicklung hat Pötzl die Ansicht geäußert, daß die Simultanagnosie die Regression auf das Bilderbuchstadium der Kinder darstelle, auf die Phase der Und-Verbindungen (Pick). Demnach wäre die Simultanagnosie die Störungsform der optischen „Sinn“kategorie. Zwischen beiden, der Ausdruckskategorie und der Simultankategorie, dürfte die Kategorie der Objekt- und Farberfassung liegen, jenseits davon die Welt der symbolischen Zeichen. Diese, ihrer Qualität nach ganz unterschiedlichen Kategorien, von denen wir hier der Einfachheit halber nur die Ausdrucksschicht, die Objekt-, Sinn- und Symbolschicht nennen, gehen nicht kontinuierlich auseinander hervor, sondern die Entwicklung geschieht in Sprüngen. Jede Schicht ist von der anderen durch einen „Hiatus irrationalis“ getrennt. Mit jeder der genannten Schichten beginnt etwas kategorial Neues. Daß optisch gegebene Zusammenhänge simultan erkannt werden, ist nicht einfach Folge des vorausgegangenen optisch-gnostischen Erfassens von Objekten, so wenig wie das Erkennen von Symbolzeichen seinen Grund in der Erfassung ihrer Formen hat.

Wir stoßen hier von der klinischen Empirie her auf dasselbe Phänomen, das die moderne Ontologie, am strengsten verkörpert in Nicolai Hartmann, dazu geführt hat, der Welt den Charakter der Schichtung beizulegen. Im Schichtenbau der Welt hat jede Schicht ihre eigenen Gesetze, keine hat ein selbständiges Sein, immer ruht die höhere auf der niederen, doch ohne Beeinträchtigung ihrer autonomen innerkategorialen Freiheit, denn mit jeder Schicht beginnt ein kategoriales Novum. Diese allgemeinsten Schichtgesetze treffen auch auf die optischen Kategorien zu, nur darf dabei nie übersehen werden, daß wir in den optischen Kategorien keine Seinskategorien vor uns haben. Denn im „Erkenntnisgebilde“ als der bloßen, sich in Annäherung vollziehenden Repräsentanz des Objekts im erkennenden Bewußtsein erscheinen nur die Abbilder der eigentlichen Seinskategorien, eben die optischen Kategorien. Ihre Schichtung ist nur ein Hinweis auf die Schichtung der Welt, deren Objekte dem Menschen nie „an sich“, sondern immer nur als „Bilder“ gegeben sind.

So erhebt sich nach der Analyse des Phänomens unabweisbar die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen und nach seiner Stellung in der Welt, denn in keinem anderen Problembereich, als in dem der Agnosie, Aphasie und Apraxie berührt sich medizinische Tatsachenforschung so eng mit philosophischer Besinnung, als dem tragenden Grund aller Wissenschaft.

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Bodamer, J. Die Prosop-Agnosie. Arch. f. Psychiatr. u. Z. Neur. 179, 6–53 (1947). https://doi.org/10.1007/BF00352849

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