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Free AccessEditorial

Geschlechterstereotype in der Schule

Published Online:https://doi.org/10.1026/0049-8637/a000209

Geschlechterstereotype sind generalisierte Annahmen über die Eigenschaften von Frauen und Männern oder Mädchen und Jungen. Sie beinhalten auch Annahmen über die unterschiedliche Ausprägung schulisch relevanter Fähigkeiten von Jungen und Mädchen. So wird Mädchen beispielsweise häufig eine geringere Begabung für Mathematik und Naturwissenschaften zugeschrieben als Jungen, während Jungen für weniger begabt im verbalen Bereich gelten.

Verschiedene psychologische Modelle wie das Erwartungs-Wert-Modell (z. B. Wigfield & Eccles, 2000) und identitätsbasierte Modelle (z. B. Kessels, Heyder, Latsch & Hannover, 2014) erklären, auf welche Weise diese Stereotypen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Geschlechtsunterschieden in Motivation und Leistung beitragen. Demnach beeinflussen Stereotype, wie Schülerinnen und Schüler die eigenen Fähigkeiten einschätzen und welchen schulischen Aktivitäten sie sich zuwenden, und außerdem, wie andere Personen, z. B. Lehrkräfte oder Eltern, die Fähigkeiten und Leistungen der Schülerinnen und Schüler wahrnehmen (Fiske & Neuberg, 1990). Damit gelten Stereotypen als eine Ursache von Urteilsverzerrungen von Lehrkräften.

Auf dieser theoretischen Grundlage vereint das Themenheft vier aktuelle, deutschsprachige Beiträge zum Themenkomplex Geschlechterstereotype und Geschlechterunterschiede im Kontext Schule. In allen Beiträgen kommt den Lehrkräften eine besondere Rolle zu. Drei der Beiträge sind in der Grundschule angesiedelt und liefern neue Erkenntnisse zur Entstehung und Erklärung von Geschlechtsunterschieden in Noten, Selbstkonzept und Leistung. Der vierte Beitrag stellt erste Ergebnisse zu einem Interventionsprogramm vor, welches das Ziel hat, die Effekte von Geschlechterstereotypen auf das professionelle Handeln von Lehrkräften zu reduzieren. Die Beiträge werden im Folgenden kurz vorgestellt.

Der erste Beitrag von Steinmayr, Weidinger, Heyder und Bergold (2019) widmet sich der Frage, warum Mädchen bereits im Grundschulalter stereotypenkonform ihre mathematischen Kompetenzen geringer einschätzen als Jungen – trotz vergleichbarer Leistungen in standardisierten Leistungstests. Dabei zeigte sich, dass sowohl die niedrigeren Einschätzungen der mathematischen Kompetenz von Mädchen durch Lehrkräfte und Eltern sowie die schlechteren Noten, die die Mädchen in dieser Stichprobe erhielten, die Geschlechtsunterschiede im mathematischen Fähigkeitsselbstkonzept zuungunsten der Mädchen erklärten. Die tatsächliche, mit einem standardisierten Mathematiktest erfasste Leistung erklärte die schlechtere Selbsteinschätzung der Mädchen dagegen nicht. Die Ergebnisse betonen somit die Bedeutung von Lehrkräften und Eltern für die schon im Grundschulalter negativ verzerrte Selbsteinschätzung von Mädchen im Fach Mathematik.

Der zweite Beitrag von Muntoni, Dunekacke, Heinze und Retelsdorf (2019) greift ebenfalls die Rolle der Lehrkraft auf. Vor dem Hintergrund der vielbeforschten Lehrererwartungseffekte (im Überblick z. B. Jussim & Harber, 2005) wurde die Rolle des Professionswissen der Lehrkraft für die Ausprägung geschlechtsstereotypisierter Erfolgserwartungen im Fach Mathematik untersucht. Bereits in der zweiten Klasse erwarteten Lehrkräfte zukünftig höhere Mathematikleistungen von Jungen als von Mädchen – auch unter Kontrolle der früheren Leistungen der Schülerinnen und Schüler. Diese stereotypkonformen Leistungserwartungen waren prädiktiv für die tatsächliche Leistungsentwicklung der Schülerinnen und Schüler, erwiesen sich jedoch als unabhängig vom Professionswissen der Lehrkraft. Die Bedeutung von Lehrerüberzeugungen für die Entstehung oder Aufrechterhaltung von Geschlechtsunterschieden im Kontext Schule wurde auch in dieser Studie erneut belegt.

Die Studie von Machts und Möller (2019) bereichert die Forschung zu Geschlechtsunterschieden in „klassischen“ Leistungsindikatoren wie Zeugnisnoten oder Leistungstests um Befunde zum innovativen Format des Kompetenzrasters in Mathematik und Deutsch. Kompetenzraster sind Zeugnisse, in denen die Lehrkraft die dem Lernstand eines Schülers oder einer Schülerin zugrunde liegenden Kompetenzen in tabellarischer Form beurteilt. In einer Stichprobe aus Schülerinnen und Schülern der vierten Klasse fanden die Autoren erste Hinweise darauf, dass Kompetenzraster möglicherweise besser als Noten geeignet sind, tatsächliche fachliche Leistungen von Jungen und Mädchen abzubilden. Jungen und Mädchen mit vergleichbaren mathematischen Testleistungen wurden im Kompetenzraster hinsichtlich ihrer mathematischen Kompetenz auch ähnlich beurteilt. Die fachlichen Kompetenzeinschätzungen der Schülerinnen und Schüler hingen außerdem weniger stark mit den sozialen Kompetenzeinschätzungen zusammen als die durch die Lehrkraft vergebenen Noten. Kompetenzraster scheinen es Lehrkräften folglich einfacher zu machen, die fachlichen und überfachlichen Kompetenzen von Jungen und Mädchen unabhängig voneinander einzuschätzen. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der (stereotypen) Zuschreibung von höheren überfachlichen Kompetenzen bei Mädchen als bei Jungen und ihrer Bedeutung für das Erreichen guter Noten (siehe auch Hannover & Kessels, 2011) ein wichtiges Ergebnis.

Der vierte Beitrag von Kollmayer et al. (2019) stellt mit REFLECT ein vielversprechendes Interventionsprogramm zur Förderung der Kompetenz zur Reflexiven Koedukation bei Lehrkräften vor. Das Programm soll Lehrkräfte darin unterstützen, ihr professionelles Handeln so zu gestalten, dass Jungen und Mädchen ihre individuellen Kompetenzen entwickeln können, ohne durch Geschlechterstereotype eingeschränkt zu werden. Zentrale Bestandteile sind nicht nur der Erwerb von Wissen über die Entstehung von Geschlechtsunterschieden und über eine motivationsförderliche Unterrichtsgestaltung zur Reduktion dieser, sondern insbesondere die Reflexion eigener Geschlechterstereotype. Die hier vorgestellte Pilotstudie mit Zwei-Gruppen-Prä-Post-Design zeigt für die Trainingsgruppe einen größeren Zuwachs an Wissen und Selbstwirksamkeitserwartung, eine vermehrt autonomiefördernde Unterrichtsgestaltung und eine Reduktion der Überzeugung, dass Geschlechtsunterschiede unveränderbar sind, auf.

Mit der Nutzung verschiedener Datenquellen (Schüler-‍, Lehrer- und Elterneinschätzungen, objektive Tests) sowie der vielfältigen methodischen Herangehensweisen (Querschnitt, Längsschnitt, Quasiexperiment) bereichern die vier Beiträge des Themenhefts die bisherige Forschung zu Geschlechterstereotypen in der Schule. Sie unterstreichen die Bedeutung von Annahmen und Erwartungen von wichtigen Sozialisationspersonen wie Lehrkräften für die Erklärung und Aufrechterhaltung von Geschlechtsunterschieden im deutschsprachigen schulischen Kontext. Gleichzeitig zeigen sie in Form der Kompetenzraster (Möller & Machts, 2019) und des REFLECT-Programms (Kollmayer et al., 2019) vielversprechende neue Wege auf, den potentiellen Einfluss von Geschlechterstereotypen sichtbar zu machen oder zu reduzieren.

Literatur

  • Fiske, S. T. & Neuberg, S. L. (1990). A continuum of impression formation, from category based to individuating processes: Influences of information and motivation on attention and interpretation. Advances in Experimental Social Psychology, 23, 1 – 74. https://doi.org/10.1016/s0065-2601(08)60317-2 First citation in articleCrossrefGoogle Scholar

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  • Wigfield, A. & Eccles, J. S. (2000). Expectancy–value theory of achievement motivation. Contemporary Educational Psychology, 25, 68 – 81. https://doi.org/10.1006/ceps.1999.1015 First citation in articleCrossrefGoogle Scholar

Prof Dr. Ursula Kessels,
Prof. Dr. Jan Retelsdorf,