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Free AccessEditorial

Traumatische und belastende Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter

Traumatic and aversive experiences in childhood and adolescence

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000678

Traumatische Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter sind häufig (Copeland, Keeler, Angold & Costello, 2007). Befunde zeigen, dass diese Erfahrungen, zu denen auch physischer und sexueller Kindesmissbrauch gehören, langfristig vielfältige Formen psychischer Störungen nach sich ziehen können; aber auch starke und langfristige Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit der Betroffenen wurden nachgewiesen (vgl. Herzog & Schmahl, 2018).

In der Vergangenheit gab es große Debatten über die Unzulänglichkeit der Diagnosekriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) als häufigste Traumafolgestörung für Kinder, die in der Formulierung einer Diagnose der PTBS für Kinder unter 6 Jahren im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM 5) mündeten (vgl. Scheeringa, Zeanah & Cohen, 2011). Für die Folgen lang anhaltender und chronischer Traumatisierung wurde die Einführung der Diagnose einer „Entwicklungsbezogenen Traumafolgestörung“ erwogen (van der Kolk, 2009), aber kritisch diskutiert (vgl. z. B. Rosner & Steil, 2012). Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD 11) wird dem Symptombild, welches sich nach schwerer und langer Traumatisierung zeigt, mit der Einführung der Diagnose der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (K-PTBS) Rechnung tragen (Cloitre et al., 2009). Diese beschreibt neben der klassischen Symptomtrias aus Intrusionen, Vermeidung und Übererregung auch persistierende Probleme der Affektregulation, des Selbstwertes und in Beziehungen zu anderen und kann auch bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert werden (vgl. Sachser, Keller & Goldbeck, 2017).

Es zeigte sich, dass belastende Erfahrungen, die nicht den Kriterien einer Traumatisierung im Sinne der gängigen Diagnosesysteme entsprechen, sich ebenso langfristig auf die seelische Gesundheit von Heranwachsenden auswirken können. So belegte eine Studie von Polcari, Rabi, Bolger und Teicher (2014), dass elterliche verbale Aggression im Sinne von Beschimpft-Werden als Kind oder Jugendlicher einen deutlichen Zusammenhang mit späterer Psychopathologie aufwies. Auch für das Gemobbt-Werden im Kindes- und Jugendalter sind die negativen psychischen Folgen klar belegt (Arseneault, 2018).

Um den chronischen Folgen früher Traumatisierung und belastender Erfahrungen in der Kindheit und Jugend entgegenzuwirken, ist es essenziell, unser Verständnis für deren Auswirkungen zu verbessern sowie effektive Behandlungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche zu entwickeln, zu evaluieren und sie auf einfache Weise in der ambulanten und stationären psychotherapeutischen Versorgung verfügbar zu machen. Eine frühzeitige Linderung belastungsbezogener Störungen und Symptome verhindert dekadenlanges psychisches und körperliches Leiden und begleitende Probleme wie z. B. eine beeinträchtigte berufliche Entwicklung oder erneute Reviktimisierung, welche bei Opfern von Gewalt in der Kindheit häufig ist (vgl. z. B. Matulis, Resick, Rosner & Steil, 2013). Gemäß nationaler und internationaler Leitlinien ist zur Behandlung der PTBS die Psychotherapie das Mittel der Wahl.

Das vorliegende Themenheft behandelt die psychischen Folgen und die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit traumatischen oder belastenden Lebenserfahrungen.

Die Studie der Arbeitsgruppe um Stecher, Bock, Fleischmann, Fuchs, Bliem, Juen et al. (2019) untersucht die Prävalenz von Mobbingerfahrungen bei jugendlichen Patientinnen und Patienten einer Kinder- und Jugendpsychiatrie und fokussiert auf die Zusammenhänge mit soziodemografischen und psychopathologischen Faktoren. Hierzu wurden Mobbingerfahrungen und Symptombelastungen von 128 jugendlichen stationären Patientinnen und Patienten mittels Fragebögen erhoben. Es zeigte sich, dass ca. ein Drittel der befragten Jugendlichen angab, in den letzten 6 Monaten unter Mobbing gelitten zu haben. Die davon betroffenen Patientinnen und Patienten berichteten signifikant häufiger von internalen Problemen und von Suizidgedanken sowie Suizidversuchen als Patientinnen und Patienten ohne Mobbingerfahrung. Die Ergebnisse zeigen, dass die Erhebung von Mobbingerfahrungen bei allen Unschärfen bezüglich der genauen Definition in der kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Versorgung relevant und wichtig ist. Metzner, Dahm, Richter-Appelt, Pawils, Moulaa-Edmondson & Stellermann-Strehlow (2019) gehen in ihrer Arbeit der Frage nach, wie viele Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen die Diagnose einer Entwicklungstraumastörung (ETS) aufweisen. Die von van der Kolk (2009) vorgeschlagenen Kriterien einer ETS umfassen Beeinträchtigungen der Erregungs- und Emotionsregulation, Schwierigkeiten der Aufmerksamkeits- und Verhaltenssteuerung sowie Schwierigkeiten der Selbstregulation und Beziehungsgestaltung. Bei ihrer Erhebung erfassten die Autoren ferner auch die Häufigkeit der ETS in Abhängigkeit von soziodemografischen Faktoren sowie der Art des Traumas. Zur Untersuchung ihrer Fragestellung wurden die im Rahmen einer Spezialsprechstunde für traumatisierte Kinder und Jugendliche verfassten Arztbriefe von 161 Patientinnen und Patienten hinsichtlich der ETS-Diagnosekriterien als sekundäre Quelle analysiert. Die Autorinnen schätzen anhand ihrer Analyse, dass 6 % der Patientinnen und Patienten die ETS-Diagnose erfüllten. Signifikante Alters- oder Geschlechterunterschiede wurden nicht gefunden. Die Autorinnen schlussfolgern, dass zwar über die PTBS hinausreichende Symptome beobachtet werden konnten, aber nur ein geringer Teil der untersuchten Patientinnen und Patienten die ETS-Diagnose erfüllte. Die Diagnose der K-PTBS bietet eventuell eine Alternative, um die über die Kernsymptome der PTBS hinausgehenden Beschwerden zu kategorisieren.

Die Studie von Sierau, Knabe, Ahrens-Eipper, Nelius & Glaesmer (2019) evaluiert die Wirksamkeit einer manualisierten ambulanten Psychotherapie für Kinder und Jugendliche mit Traumafolgestörungen („Trauma First“-Programm). Dieses umfasst Einzel- und Gruppensitzungen für die Patientinnen und Patienten sowie ihre Bezugspersonen, Familiengespräche und Hausbesuche. Untersucht respektive behandelt wurden 33 Kinder und Jugendliche mit einer Traumafolgestörung (meist PTBS). Nach der Behandlung zeigte sich ein signifikanter Rückgang der Symptombelastung von selbst- und fremdbeurteilten PTBS-Symptomen, Depressivität, Angst und Verhaltensauffälligkeiten. Die Studie liefert erste Hinweise für die Effektivität des „Trauma First“-Programms.

Müller, Klewer und Karutz (2019) untersuchten die ambulante Versorgungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Traumafolgestörungen in Deutschland im Rahmen einer Befragung von 206 ambulant tätigen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten mit traumaspezifischer Qualifikation. Die Rücklaufquote war mit 44 % gering – wie es bei Therapeutenbefragungen leider oft der Fall ist. Die meisten Befragten gaben an, dass in ihrer Ausbildung zur Psychotherapeutin bzw. zum Psychotherapeuten, Wissen und Kenntnisse zur Behandlung von Traumafolgestörungen nicht ausreichend vermittelt wurden. Die berichtete Versorgungssituation war durch mangelnde Behandlungskapazitäten, also lange Wartezeiten für die Patientinnen und Patienten, charakterisiert. Dies deckt sich mit Befunden von Münzer et al. (2018) zur Versorgungssituation traumatisierter Kinder und Jugendlicher in Deutschland. Die Autorinnen und Autoren leiten Empfehlungen für eine stärkere Berücksichtigung der Psychotraumatologie im Bereich der Aus- und Weiterbildung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten, für eine Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit sowie für die Bedarfsplanung ab.

Die Beiträge in diesem Heft machen die speziellen Anforderungen an eine genaue Diagnostik und Belastungsanamnese im Kindes- und Jugendalter deutlich. Sie bieten Befunde zur Wirksamkeit neuer Interventionen, zeigen aber auch die bestehenden Lücken in der psychotherapeutischen Versorgung auf. Diese Lücken gilt es in den kommenden Jahren zu schließen, z. B. durch große Projekte zur Dissemination von empirisch gestützten Psychotherapien der PTBS im Kindes- und Jugendalter, wie sie derzeit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert werden.

Literatur

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Regina Steil, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Institut für Psychologie, Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie, Varrentrappstr. 40–42, 60486 Frankfurt am Main, Deutschland, E-Mail